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Briefe von 1883-1891


An eine Schwester.
Neuendettelsau, 1. März 1883

 Meine liebe Schwester, jetzt sind unsere Gedanken alle von der einen großen Sache beherrscht, daß wir unsere liebe, teure Frau Oberin für dieses Leben verlieren werden. Aber nein, wir verlieren sie ja damit nicht, wir gehören zu ihr und sie zu uns, auch wenn sie uns in die Heimat vorangeht. Aber es ist so große, ernste Zeit. Und schon dürfen wir Erstlingsfrüchte unseres heißen Sehnens und Flehens schauen. Es ist alles so friedevoll, unsere liebe, teure Kranke so rührend still und anspruchslos bei sehr schwerem Leiden. So war sie ja immer im Leben. Herr Rektor ist viel bei ihr. Und es ist alles im Haus wie von heiligem, stillem Ernst und Schmerz durchzogen und jedes sehr bescheiden und treu auf seinem Posten.

 ...Wir sollen auch in keiner Not verzagen, wir wollen stark sein, meine Schwester. So und nicht anders durfte es kommen, um Dir Deinen alten Menschen im Lichte zu zeigen; so und nicht anders mußtest Du geführt werden, daß Deine Natur zermalmt werde und der neue Mensch reifen könne. Laß uns stark sein und nur Ihm in die Hände fallen, daß Er mit uns mache, was Er will. Die Frische und Freudigkeit ist doch nicht bloß etwas Natürliches, das nicht zu erlangen wäre, wenn es nicht durch Schöpferhand in uns gelegt ist, sondern die Freude ist eine Frucht des heiligen Geistes, und wir sollen umkehren und werden wie die Kinder, also auch einfältig fröhlich werden wie die Kinder. Ich weiß, daß es verschiedene Zeiten im Leben gibt. Aber: „Keiner wird zuschanden, der dein harret.“ Und alles müssen wir bekommen, was wir brauchen zu unserem heiligen Dienst; und allen alles werden, das sollen wir doch auch in unserem winzigen, bescheidenen Maße. Gott wird Dir auch Weisheit schenken, denn das hat Er verheißen allen, die Ihn darum bitten. Laß uns nur nicht bitten, wie die Meereswogen getrieben und gewebet werden, mit zweifelndem Herzen. Und wir werden Ihm noch danken für all die schwere Zeit.

Deine Therese.


Empfohlene Zitierweise:
Therese Stählin: Auf daß sie alle eins seien. Verlag der Diakonissenanstalt, Neuendettelsau 1958, Seite 10. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Therese_St%C3%A4hlin_-_Auf_da%C3%9F_sie_alle_eins_seien.pdf/12&oldid=- (Version vom 1.8.2018)