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der anderen stehen und den „guten Kameraden“ beweinen? Ich weiß es nicht. Mir naht ja das Alter noch mehr als Dir, und doch denke ich zuweilen, ich erlebe wohl noch mancherlei.

 ...Nun wünsche ich Dir zum Geburtstag ein lindes, mildes Herz gegen alle Menschen. „Gib mir ein süßes Herz gegen alle Kreaturen.“ Flüchte Dich immer, wenn Deine Natur auf dem Rechtsstandpunkt stehen will, zu dem Standort des Erbarmens. Wenn wir den Menschen einmal ins Herz sehen und sie verstehen können, werden wir uns sehr genieren, daß wir nicht zarter mit ihnen umgegangen sind. Ich bin so überwältigt davon, daß im Gesetz Mosis (!) allenthalben solch eine zarte Barmherzigkeit befohlen ist.

 Fahre fort, treulich zu beten für

Deine alte Lebensgefährtin Therese.


An die Schwestern in Lindau.
Neuendettelsau, 7. Juni 1894

 Mein liebes Lindau, ich möchte für den noch kurzen Rest meines Lebens einen ganz andern Ernst mit dem Worte machen. Laßt uns das miteinander tun, meine lieben Lindauer Kinder! Laßt uns alles Gotteswort in seinem vollen, ganzen, großen Ernst nehmen, soweit wir es eben verstehen.

 Ihr werdet Euch nun auch viel mit den neuen, großen Plänen befassen, die Herr Stadtpfarrer für Lindau im Herzen trägt. Es ist ja für meine Seele zunächst immer ein Schrecken, wenn etwas Neues übernommen werden soll, weil wir so viel Schulden gemacht haben in bezug auf die alten Stationen. Und doch sollte die Entwicklung der Außenstationen mich ebenso erfreuen wie die Entwicklung des Mutterhauses und seiner Arbeitsgebiete.

 Am Sonntag war ein sehr wichtiger Tag in unserer Anstaltsgeschichte: der neue Herr Pfarrer Weishaupt ist in Bruckberg durch Herrn Rektor mit Assistenz unserer beiden anderen Geistlichen installiert worden. Betet ernstlich, daß alles recht wird. Wir bauen dem Herrn Pfarrer auch ein Haus und brauchen noch viel Geld. Die Kleinen haben geweint, daß nun Herr Rektor nicht mehr zu ihnen kommt, aber einer hat gesagt: „Sei still, es ist ja dem Herrn Rektor sein Bruder.

Empfohlene Zitierweise:
Therese Stählin: Auf daß sie alle eins seien. Verlag der Diakonissenanstalt, Neuendettelsau 1958, Seite 114. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Therese_St%C3%A4hlin_-_Auf_da%C3%9F_sie_alle_eins_seien.pdf/116&oldid=- (Version vom 22.8.2016)