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An eine Schwester.
Neuendettelsau, 23. Okt. 1893

 Meine liebe Schwester, ich weiß, daß Du schon immer auf Nachricht gewartet wegen Deiner etwaigen Ablösung. Aber willst Du nicht den Umstand, daß es Dir mit Deiner Gesundheit jetzt besser geht als sonst, so annehmen, daß Du in dem jetzigen Beruf bleiben sollst? Wir haben Dich allerdings damals zur „Aushilfe“ hingeschickt, aber doch nur aus Zaghaftigkeit, weil wir Deine Kraft nicht kannten. Nun aber um Deiner Gesundheit willen eine Ablösung nicht nötig scheint – wenigstens weiß ich das nicht –, willst Du nicht Gott zu Lob und Dank in S. weiter dienen? Laß uns immer mehr alles, was uns erlaubt wird an Dienst und Berufsarbeit, als Gnade ansehen. Meinst Du nicht?

 Morgen sind es einundzwanzig Jahre, daß unser lieber seliger Herr Rektor hier einzog.

In mütterlicher Liebe Deine Therese.


An eine Schwester.
Neuendettelsau, 8. Dez. 1893

 Meine liebe Schwester, es ist mir so, als litte Deine Seele besonders schwer. Laß Dich dadurch nicht irre machen, sondern klammere Dich fest an unsern treuen Hohenpriester, der versucht ist allenthalben, gleich wie wir, doch ohne Sünde. Ich bitte Dich auch, daß Du leiblich Dir ein wenig nachgibst; oft setzt der Feind bei überreizten Nerven ein, und ein wenig Ausruhen macht die Seele wieder lichter. Ach, wenn wir heimkommen, wenn wir wirklich heimkommen: Es muß uns alles genommen werden, und wir sollen unter großen Leiden dem Herzog unserer Seligkeit folgen. Aber mit jedem Tag kommt das Ziel näher, und jeder Glockenschlag bringt die Vollendung aller Dinge näher herbei. Es ist Gottes weise so eigen: Er hilft uns in so vielen kleinen Dingen, daß wir’s greifen können, daß Er da ist, aber in bezug auf die großen Angelegenheiten, die unsere Seele ängstigen, ist keine Stimme noch Antwort.

 Gott behüte Dich wie einen Augapfel im Auge, Er behüte Dich vor allem Argen. Wir werden’s mit Augen schauen und mit Händen greifen, daß Er uns alle Seine Verheißungen hält, aber das pure, nackte Glauben ist der Natur das Widerwärtigste.

In herzlicher Liebe Deine Mutter.


Empfohlene Zitierweise:
Therese Stählin: Auf daß sie alle eins seien. Verlag der Diakonissenanstalt, Neuendettelsau 1958, Seite 109. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Therese_St%C3%A4hlin_-_Auf_da%C3%9F_sie_alle_eins_seien.pdf/111&oldid=- (Version vom 22.8.2016)