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Crescentia dachte sich schon als die Erwählte dieses merkwürdigen Mannes, aber bald zeigte es sich, daß sie zu frühe triumphirt habe. Der Fremde machte den Weg, den er in seiner Zärtlichkeit vorwärts genommen, sichtbar wieder zurück, seine Besuche wurden immer seltener und seine Anwesenheit immer kürzer. Kam er, so unterredete er sich meistens mit den Aeltern, und schenkte auch den jüngern Schwestern mehr Aufmerksamkeit als zuvor. Crescentia versuchte zwar alles, die vorige Vertraulichkeit wieder einzuleiten, allein ihre Bemühungen waren fruchtlos; sie spielte zuweilen die Trauernde und Betrübte, allein ihr Kummer wurde wenig beachtet; sie verdoppelte ihre Wärme und Anhänglichkeit, allein sie wurde mit steigender Kälte und Gleichgültigkeit erwiedert; sie suchte auf allen möglichen Wegen ihn zu Erklärungen zu bringen, allein er entschlüpfte ihr mit der größten Leichtigkeit und Feinheit. In die gewöhnlichen Schranken der Höflichkeit, die man jedem gebildeten Frauenzimmer erweist, schloß er nun sein ganzes Betragen ein. Darüber verfiel sie Zusehends in wirkliche Schwermuth und sichtbaren Seelenschmerz; allein auch dieß stimmte die gesunkene Zärtlichkeit des Fremden nicht mehr höher. Endlich blieb er ganz aus, und nach wenigen Tagen erfuhr man, daß er verschwunden sey. Niemand wußte, wo er hingekommen. Eine Zeit lang

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Ludwig Neuffer (Hrsg.): Taschenbuch von der Donau 1824. Stettinische Buchhandlung, Ulm 1823, Seite 46. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Taschenbuch_von_der_Donau_1824_046.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)