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zu bringen. Sein Muth ward plötzlich wieder lebendig, als er draußen vor der Thür ein Commando Soldaten erblickte, welche ihn escortiren sollten. Er riß sich los, lief durch den Gasthof in die Binnenhöfe und rannte aufs Geradewohl eine Treppe hinan, bis er vor einen verschlossenen Boden kam, so daß ihm, da er seine Verfolger hörte, keine Wahl blieb, als aus einem Fenster hinaus auf das Dach zu klettern. Hier hoch in Gottes freier Luft, zwischen Schornsteinen aller Art, sprang und voltigirte der unglückliche Künstler gleich einem Gaukler oder einer Gemse von einem Dache auf das andere, so daß er, als er endlich sich umzusehen und Athem zu schöpfen wagte, das Dach des Wirthshauses zur weißen Taube mit der ungeheuren Wetterfahne drauf nicht mehr aufzufinden vermochte. Aber hier wie eine Katze konnte er doch nicht auf den Dächern die Nacht zubringen.

Er erblickte fern ein helles Fensterchen, und eine weibliche Gestalt in dem Stübchen und beschloß, das Mitleid derselben anzuflehen. Als Netscher vor das Fenster kam, blieb er, ungeachtet seiner schrecklichen Lage, gefesselt und entzückt unbeweglich sitzen.

Sein Künstlerauge ward durch den Anblick einer Nähterin zauberisch berührt. Sie war ein junges Mädchen in vollster Blüthe der Schönheit und Gesundheit, mit einem Engelsgesichte, welche, ganz allein sitzend, ihre Feuer-Kieke vor sich, den größten Nähkorb mit der Scheere drauf neben sich, ämsig nähte. Das Mädchen war einfach, aber geschmackvoll gekleidet und hielt ein schönes Atlas-Nähkissen auf den Knien, von welchem sich ihre halb entblößten Arme schön abhoben.

Netscher zauderte nicht länger und pochte ans Fenster. Die Schöne, obwohl erschrocken, war muthiger als er glaubte; sie kam und öffnete. Jetzt brachte der Maler seine Bitte um Schutz an. Fanchonette sagte ihm denselben mit Thränen zu und half ihm beim Einsteigen in ihr jungfräuliches Gemach. Hier wurde der Maler gewahr, daß die ganzen Häuser an den Straßen in der Nachbarschaft des Wirthshauses nach einem Deserteur, einem Soldaten des Königs, durchsucht waren. Dennoch beharrte Fanchonette bei ihrem Entschlusse, den schönen, jungen Mann seiner Kunst und einem glücklichen Leben zu retten.

Das schöne Mädchen, jeden Augenblick mehr von dem Flüchtlinge angezogen, gestand, daß sie, eine Dienerin eines der ersten Edelleute von Bordeaux, eines Hauptmanns von den Musketenschützen, gar keinen Ausweg wisse, ihn zu verbergen, als dadurch, daß sie ihn auf ihrem Zimmer behalte. Dies geschah wirklich; der Maler, um sich den Blicken der jede Minute bei Fanchonetten kommenden und gehenden Mägde und sonstigen Dienerinnen zu verbergen, mußte sich bequemen, drei Tage lang unter dem Bette der Französin zuzubringen, von welcher schrecklichen Lage er nur erst spät Abends befreit werden konnte.

Inzwischen war Fanchonette zu dem Consul, dem Handelsbevollmächtigten Hollands, gelaufen. Die Behörden nahmen sich des Malers an und riethen, die Niederländer nicht durch einen Gewaltstreich gegen einen ihrer nicht unbedeutenden Landsleute zu erbittern, und endlich gelang’s: der Gouverneur von Bordeaux erklärte den Maler für frei und ledig, erlaubte ihm sogar, sich, so lange er wolle, in dieser Stadt zu verweilen und jederzeit seines Schutzes gewärtig zu sein.

Drei Wochen später verheirathete sich Kaspar Netscher zu Bordeaux mit seiner Retterin.

Empfohlene Zitierweise:
Text von Adolph Görling: Stahlstich-Sammlung der vorzüglichsten Gemälde der Dresdener Gallerie. Verlag der Englischen Kunst-Anstalt von A. H. Payne, Leipzig und Dresden 1848−1851, Seite 80. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Stahlstich-Sammlung_der_vorz%C3%BCglichsten_Gem%C3%A4lde_der_Dresdener_Gallerie.pdf/97&oldid=- (Version vom 1.8.2018)