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Bitten anziehen mußten, denn ich sagte mir, sollten sie den Russen als preußische Beamte in die Hände fallen, dann wäre es um sie geschehen. Am Sonntag vormittag, als ich sah, daß die Drengfurter fast alle hier durchkamen, holte ich mir von dort die alte Frau Pfarrer Simon, die am 19. Dezember 100 Jahre alt wird. Da es keine Bäcker und Fleischer dort mehr gab, die Läden fast alle geschlossen waren, wie sollte die alte Dame dort leben.

Die Chaussee war eine lange Kette von Flüchtlingen mit Vieh und Pferden. Als ich an diesen Wagen vorbeifahren mußte – es war kaum möglich gegen den Strom schwimmend durchzukommen –, da kamen mir unwillkürlich die Tränen in die Augen bei all dem Elend. Wie anders war ich sonst meistens am Sonntag vormittag um dieselbe Zeit den Weg gefahren, an der Seite meines Mannes durch fruchtbare Felder und in lachendem Sonnenschein in unser Gotteshaus. Wie ganz anders war mir nun zu Mut, wie schwer schien das Leben, wie schwer war es selbst, den wirtschaftlichen Betrieb unseres Gutes aufrecht zu erhalten. Mein Mann und der Oberinspektor waren gleich am 2. August früh um 6 Uhr fortgefahren, um sich zu stellen, ebenso Vorarbeiter, Schmied und noch viele andere Leute. Dazu die Flucht des Oberschweizers und Gärtners, das Vieh mußte gemolken werden, die Frauen seit Jahren nicht mehr daran gewöhnt, wollten nicht

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Sally Innes Siegfried: Aus der Russenzeit Ostpreußens. Verlag von Hapke & Schmidt, Berlin 1915, Seite 5. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:SiegfriedAusDerRussenzeitOstpreussens.pdf/9&oldid=- (Version vom 31.3.2020)