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Franz Wilhelm Seiwert: Aufbau der Proletarischen Kultur. In: Die Aktion. 10Jg. 1920, Sp. 719–724

AUFBAU DER PROLETARISCHEN KULTUR
Von F. W. Seiwert

Vorbemerkungen

Diese Schrift ist eine Auseinandersetzung mit den Kulturaufgaben des Proletariats von Lunatscharski und seinen Berichten über die Tätigkeit des Kommissariats für Volksaufklärung in Sowjet-Rußland in der AKTION und mit dem kommunistischen Schulprogramm von Rühle. Ich weise auf diese Berichte und Schriften hin.

Einige Dinge will ich, so wie ich sie sehe, hinstellen, ihre Umgestaltung oder Zerstörung, oder wie sich mir das Neuzuschaffende vorstellt, versuchen zu sagen. Nichts als ein fertiges, festes System gegen ein ebenso festes, beendetes System, sondern als Gedanken, hineingeworfen in den geistigen Revolutionsprozeß, die sich mit gleichgerichteten Gedanken verbinden möchten, zur endlichen Klärung. Denn ich glaube, daß wir Heutigen, gebildet durch das bürgerlich-kapitalistische System, verstrickt mit unserm Gedankengang in dieses System, nicht kommender revolutionärer Umwandlung den Weg versperren dürfen, indem wir etwas vorwegnehmen wollen, zu dem die Voraussetzungen in uns erst beginnen sich zu verwirklichen. Darum muß alles, was man versucht, als Form für das Kommende vor sich hinzusetzen, so weich sein, muß sich selbst so fragwürdig sein, daß nirgendwo die Möglichkeit des Versperrens des Weges der fortschreitenden Revolution besteht. Es soll nicht etwas festgesetzt und damit Wachsendes beendet, sondern Wachsendes unterstützt werden, aus dem Glauben, daß das Unmögliche Möglichkeit wird, wenn persönliche Ichsucht, die den kleinen Punkt eigener Erkenntnis für die Erkenntnis nimmt, sich dem großen Werden und Wachsen nicht hindernd entgegenstemmt. Diese Erkenntnis der Unmöglichkeit des Wissens des Einzel-Ich, losgelöst vom Allich, ist der Grundpfeiler, auf dem sich die proletarische Kultur, die in die erste allgemeinmenschliche Kultur mündet, aufbaut. Aus diesem wächst das Wissen, daß alle gewordenen Dinge, alles Formgewordene, reif ist zum Untergang, das aus dieser Erkenntnis in das Formwerden einen Tod ohne Qual und Krampf, da er die Gewißheit der Neugeburt, die Gewißheit, daß er, der Tod, erst die Möglichkeit der Neugeburt und des ewigen Lebens ist, einschließt. Daß also jede Form sich aus sich selbst zerstört, um sich neu zu bilden.

Es sitzt noch an so manchem Punkte die Ehrfurcht vor der bürgerlichen Kultur und, hieraus entspringend, der Glaube, die Hoffnung, man könnte diese bürgerliche Kultur in die proletarische überleiten, der Glaube, die proletarische Kultur sei die höchste Spitze der bürgerlichen. Wir müssen wissen, daß hier nichts mehr überzuleiten, höher zu bauen ist, denn der Geist, der diese Kultur schuf, beginnt selbst sie zu zerstören. Es kann keine Verbindung, außer jener feinen Schwingung, die aber so fein ist, daß man sie nicht bezeichnen kann, zwischen der bürgerlichen und proletarischen Kultur geben. Dort ist ein Ende, hier ein Neuanfang. Dazwischen das Chaos. Wir müssen das Chaos wollen! Wir müssen durch das Chaos hindurch. Die proletarische Kultur bedingt die Neueinstellung des Menschen und der Dinge, bedingt den Anfang. Alles andere sind Umwege, wenn nicht schlimmeres: sich immer schließende und verschließende Kreise, Versuch der bürgerlichen Kultur, in einer anderen Farbe zu schillern. (Die Parallele: die kommunistische Wirtschaftsordnung durch eine staatskapitalistische oder auch durch einen Kommunismus der Familie, der Sippe, der Nation zu erreichen.) Wir wissen, daß der Geist des Kommunismus, gleich dem Geiste Christi, nicht zu ertöten ist, daß Er immer wieder aufersteht, aber wir wissen auch, daß das Formwerden, das Festwerden, immer wieder sein Tod ist, bis er im Zerstören der Form, des Festen, wieder seine Auferstehung feiern kann. Und ist es in der ganzen vergangenen [720] Kultur, sichtbar in der Kunst, die doch immer nur ein Aussagen über das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein dieses Geistes ist, nicht das gleiche? Die Wahrheit immer nur in dem Ausbrechen gärenden, zerstörerischen Lebens und nachfolgend die Lüge in der Erstarrung zur festen, gesicherten Form. An einem Punkte des Beginns einer jeden Kultur war die proletarische Kultur Wirklichkeit. Von dort kommt die feine Schwingung, von der ich vorher sagte, daß sie mit Worten nicht zu bezeichnen sei, die die proletarische Kultur mit aller menschlichen Kultur verbindet. Immer kam der Neubeginn aus der Masse, aus dem Unbewußten, das sich, sein Einzelnes, seine Einzelnen ausspie, sich in ihnen seinen Mund schuf. Bis jetzt fehlte die Möglichkeit der Mündung der proletarischen Kultur in die klassenlose, denn ökonomisch fehlte die Möglichkeit der Auflösung der Klassengesellschaft in die klassenlose. Die herrschende Klasse zwang sich die Kunst, die Kultur, zu ihrer Stütze, wie sie sich alles Geschaffene zwang. Mit der Klassenherrschaft vergeht die Klassenkunst. Auf Erdstrichen, die es ökonomisch leichter hatten, fiel längst die Klassenherrschaft in unserem Sinne und ward die klassenlose Kultur längst Wirklichkeit. Alles, was entsteht, entsteht aus seiner Not, der Not, leben zu müssen. Auch der Kapitalismus entstand aus dieser Not. Er war in seinem Beginn eine Verminderung der Not und eine Steigerung des Lebens einer größeren Zahl Menschen als der Feudalismus das sein konnte. Ökonomisch bestand noch nicht die Möglichkeit, daß alle Menschen ein wahrhaftes Leben führen konnten ohne Unterdrückung des Schwächeren, dessen, der sich unterdrücken ließ. Die Kultur brauchte Sklaven. Wir glauben an den Sozialismus als den Weg, das wahrhafte Leben für alle Menschen zu erringen. Wir glauben an die ökonomische Möglichkeit, den Sozialismus heute zu verwirklichen. Der Sklave der proletarischen Kultur ist die Maschine. Der Sozialismus ist der Weg zum Kommunismus. Der Sozialismus, der Kommunismus ist die Voraussetzung und die Folge der proletarischen Kultur. Die proletarische Kultur ist die Steigerung des Lebens aller Menschen.


Im Sozialismus sind drei Etappen sichtbar. Jedoch sind diese Etappen nicht eng gegeneinander abgegrenzt, sondern es ragt eine in die andere hinein, sie durchdringen sich gegenseitig und Anfang der einen und Ende der andern gehen unbestimmt ineinander über. Es ist keine Entwicklung, sondern die Klärung eines Zustandes, welcher ist die kommunistische Idee.

Die erste Etappe ist die Kampfperiode. Die Besitzergreifung der Macht durch die Arbeiterschaft. Die harte, schonungslose Auseinandersetzung des Proletariats mit der Bourgeoisie.

Die zweite Etappe ist die Zerstörung aller überkommenen Formen der Bourgeoisie. Die Zerstörung des Bürgers im Proletarier selbst. Die Zerstörung der Macht und des Besitzes bis in ihre letzten Konsequenzen. Der Beginn des Aufbaues der sozialistischen Gesellschaft.

Die dritte Etappe ist die Errichtung der wahrhaften, klassenlosen kommunistischen Erdgemeinschaft.

Ich möchte nun bestimmte, mit Namen festumrissene Bezirke heutiger Kultur in diese drei Etappen hineinstellen, um ihr Wirken, ihre Tätigkeit, ihr Wesen in diesen Etappen klar werden, sichtbar werden zu lassen. Es soll kein enges Umgrenzen oder Festlegen des in jeder Etappe zu tuenden sein, und was seinem Wesen nach in die dritte Etappe gehört, kann in der ersten geschehen, ja muß geschehen und wird geschehen, da Menschen diese drei Etappen in sich schneller durchlaufen haben werden und eher zum Bau der kommunistischen Gemeinschaft reif sein werden als sie außer ihnen geschieht. Durch sie wird die Klärung der kommunistischen Idee vor sich gehen und die Revolution weitergetrieben. Es geht aus dem in den

Empfohlene Zitierweise:
Franz Wilhelm Seiwert: Aufbau der Proletarischen Kultur. In: Die Aktion. Jg. 1920, Sp. 719–724. Die Aktion, Berlin-Wilmersdorf 1920, Spalte 719–720. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Seiwert_(1920)_Aufbau_der_Proletarischen_Kultur.pdf/1&oldid=- (Version vom 5.9.2017)