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Paul Seeberg: Aus alten Zeiten : Lebensbilder aus Kurland

(Das alles ist im Laufe der Zeit glücklicherweise ganz an­ders geworden. Die Barone A. v. Hahn (Wahnen) und P. v. Hahn (Asuppen) haben der Kirche wieder eine Orgel geschenkt und das liebe Gotteshaus mit möglichster Konservierung des alten Schmuckes trefflich wiederhergestellt.) Auf dem Orgelchor stand längst keine Orgel mehr; es war allerdings einst eine da gewesen und dazu natürlich auch ein Organist und Kantor, aber jetzt war beides spurlos verschwunden. Das Werk war verfallen; die bleiernen oder zinnernen Pfeifen waren schließlich von den wüsten Junkern zu Rehposten verschmolzen worden; die Organistenstelle war eingegangen, wie manches andere noch. Sogar das Siechenhaus, das die Väter gestiftet hatten, war räuberischen Händen

verfallen und bestand nur noch wie zum Spott als Krug [1]

  1. Der seltsame Name „Elendskrug" deutet noch auf die ursprüngliche Bestimmung hin. So konnte man auch nur mit Bedauern die alten Lanzen und Fahnen ansehen, die sich in einer Kirchen­ecke fanden. Jede Erinnerung, woher sie stammten, hatte sich verloren. Wenn ich mich recht entsinne, so trug eine oder die andere in der Lanzenspitze das Kreuz in durchbrochener Arbeit mit dem Monogramm I H S (in hoc signo vinces); darnach konnten sie vielleicht der Zeit der Schwertbrüder oder des Deutschordens entstammen. Das Seidenzeug einer der Fahnen war noch in meiner Knabenzeit unversehrt und von wunderbarer Festigkeit, leider aber vermochte ich die lange in Mönchschrift abgefaßte Inschrift nicht mehr zu entziffern, weil das Gold zu sehr abgebröckelt war. Ebenso unklar blieb mir die Bestimmung eines recht geschickt in Holz geschnitzten Hirschkopfes mit schönem Geweih, der hinter dem Altar lag. Die Sage erzählt, es sei einmal während des Gottes­dienstes im Sommer, wo die Thüren der Kirche offen gestanden, ein von der Meute gejagter Hirsch in das offene Gotteshaus geflohen und vor dem Altar niedergestürzt; zum Andenken daran habe man das Geweih in der genannten Weise aufbewahrt. Aber, soviel ich weiß, gab es in Kurland keine Edelhirsche; auch scheint die Sage außerdem wenig glaublich. Viel wahrscheinlicher ist es mir, daß der Hirschkopf bei irgend einer Feierlichkeit am Hofe des
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Paul Seeberg: Aus alten Zeiten : Lebensbilder aus Kurland. J. F. Steinkopf, Stuttgart 1885, Seite 89. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:SeebergAusAltenZeiten.pdf/87&oldid=- (Version vom 15.9.2022)