Paul Seeberg: Aus alten Zeiten : Lebensbilder aus Kurland | |
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vier Meilen entfernten Poststation per Estafette zuschicken könne; denn die reguläre Post kam nur einmal wöchentlich nach Wahnen. Nun, er hatte die Freude, daß seine treue Mühe an mir nicht verloren war. Gerade bei einer Schulfeier in der Volksschule beteiligt, hörte er das Posthorn erklingen; der Brief sagte ihm, daß ich mit der besten Nummer durchs Examen gekommen war. Nur Elternherzen verstehen es mitzufühlen, wie wohl solche Botschaft thut.
Ein Jahr nach dem andern flog dahin. Ich beendigte meine Studien, meine Hauslehrerjahre, trat mein erstes Pastorat (Kremon[1]) an, ward Bräutigam, gründete meinen Hausstand und freute mich mit meiner Friederike der sonnigen Tage unseres häuslichen Glückes. Es mochten etwa sechs Wochen her sein, daß wir verheiratet waren, da kamen meine lieben Schwiegereltern mit den beiden Schwägern zu uns zum Besuch. Man hörte allerdings beunruhigende Mitteilungen über den Ausbruch der Cholera in Riga, aber kein Mensch fürchtete sich vor ihr auf dem Lande, mitten in einer schönen und gesunden Gegend. Am andern Tage aber ergriff die unheimliche Krankheit meinen Schwiegervater, der durch einen infizierten Ort gekommen war, gerade als wir uns zu Tische setzen wollten, einige Minuten später auch meinen älteren Schwager, und raffte beide in wenig Stunden hin. Es war der erste überwältigende Kummer, der mich und meine arme junge Frau traf.
Auch in der alten Heimat war manches anders geworden. Die Großmutter war gestorben. Zwei meiner Schwestern wurden verheiratet; die eine folgte ihrem Manne in das Innere des Reichs und wurde bald Witwe, die andere ward die Gattin des Pfarrers Henkel, der das alte Pastorat
- ↑ in Livland
Paul Seeberg: Aus alten Zeiten : Lebensbilder aus Kurland. J. F. Steinkopf, Stuttgart 1885, Seite 225. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:SeebergAusAltenZeiten.pdf/223&oldid=- (Version vom 19.9.2022)