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Paul Seeberg: Aus alten Zeiten : Lebensbilder aus Kurland

ihr Gebet gelesen hätte, und kein Sonntag, an dem sie versäumt hätte, die Predigt des Tages zu lesen. Die lieben, fünfzigmal durchgeles’nen Bücher waren an den Ecken ganz rund geworden von lauter redlichem Gebrauch. Zu unsrer Schande muß ich’s gestehen, daß wir kleinen Unholde ihrer Andacht leider nicht immer die schuldige Rücksicht entgegen­ brachten. So wenig ein Sperling länger als fünf Minuten auf einem Ast sitzt, so wenig war es uns kleinen Zug­vögeln möglich, unsern Wandertrieb grade um die Bet- und Andachtsstunde der Großmutter unter Schloß und Riegel zu legen. Zu allem Unglück war der letzteren Behausung, die uns unentbehrliche „gelbe Stube“, ein Durchgangszimmer. Eh man sich’s versah, war man mitten darin, während die Großmutter las, und wurde seine Missethaten erst inne, als sie, von ihrem Buche aufsehend, die kleine geräuschvolle „Klerisei“ oder „Karawane“ mit einem tüchtigen Donnerwetter überschüttete, das jedenfalls nicht im Texte stand. Natürlich waren die Wandervögel sofort auf dem Rückzug und die Andacht wieder in ihrem gewohnten Gang. Auch sonst war letztere in erregten Augenblicken nicht allemal ein ausreichendes Beschwichtigungsmittel für die aufsteigende Unzufriedenheit, wie wenigstens die beiden Tanten versicherten, die das als nächste Nachbarinnen der gelben Stube natürlich am besten wissen mußten.

Dies Zugeständnis soll meiner Ehrerbietung und Dankbarkeit, die ich für meine Großmutter empfinde — und jetzt gewiß viel lebhafter, als damals, wo ihre Hand noch über mir war, — keinen Abbruch thun. Ebensowenig soll dies der Fall sein, wenn ich bekenne, daß sie auch von dem leidigen Erbteil, das uns allen anhaftet, der Hoffart, nicht ganz frei geblieben war. Sie hielt viel, fast zuviel von ihrem hellen, klaren Verstande. Freilich nicht ohne Grund; denn meist wußte sie wirklich den Nagel auf den Kopf zu

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Paul Seeberg: Aus alten Zeiten : Lebensbilder aus Kurland. J. F. Steinkopf, Stuttgart 1885, Seite 23. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:SeebergAusAltenZeiten.pdf/21&oldid=- (Version vom 12.9.2022)