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Paul Seeberg: Aus alten Zeiten : Lebensbilder aus Kurland

Aber so, glaub ich, sieht es doch nirgends aus, wie hier. Mit Schaudern hab ich den Schmutz gesehen, in welchem sie leben, den unglaublichen Unverstand, mit welchem sie ihre Kinder erziehen oder die Kranken pflegen. Es ist kein Wunder, daß die armen Kleinen wie die Fliegen hinsterben. Ich habe einen Versuch gemacht, sie in dieser Beziehung etwas aufzuklären; — mein alter Doktor meint freilich, es sei verlorne Müh, — und, aufrichtig gesagt, ich fürchte, sie haben mich nicht einmal verstanden. Was mir aber geradezu unbegreiflich ist, das ist ihre Gleich­gültigkeit bei dem Tode ihrer Kinder. Kaum daß die Mutter eine Thräne vergießt, wenn ihr das Kindlein in der Wiege stirbt. Und doch legen sie anderseits Zeichen von Zärtlichkeit an den Tag. — Ich ermüde Sie vielleicht, Herr Pastor, mit meinen Schilderungen, — aber Eins muß ich Ihnen sagen, die Kluft, die ich als Fremde noch zu überschreiten habe, bis diesem armen, guten Volk ich näher kommen und etwas Gutes schaffen kann, — ist groß, — sehr groß. Ich fühl es nur zu tief.“

„Aber Sie bringen, meine Gnädige, so viel Sonnenschein der Liebe mit, daß die gütige Vorsehung Ihre Saat gewiß nicht wird verloren gehen lassen,“ erwiderte der Großvater.

„Nur rechnen Sie nie auf Dank, gute Frau Baronin,“ fiel Fräulein Alma mit unverkennbarer Bitterkeit dazwischen.

Schon ward der Abendtisch serviert, als ein alter Bauer herantrat und ehrerbietig mit unbedecktem Haupt am Fuß der großen Freitreppe stehen blieb, ein gebeugter, zitternder Mann, in dessen biederem, treuherzigem Gesicht die Spuren tiefen Grames unverkennbar waren.

„So komm doch herauf alter Behrsing,“ ermutigte ihn der Baron. „Was drückt dich denn heute so sehr, wo doch alles voll Freude ist?“

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Paul Seeberg: Aus alten Zeiten : Lebensbilder aus Kurland. J. F. Steinkopf, Stuttgart 1885, Seite 120. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:SeebergAusAltenZeiten.pdf/118&oldid=- (Version vom 16.9.2022)