Paul Seeberg: Aus alten Zeiten : Lebensbilder aus Kurland | |
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geleitet, mit dem Nußstock in der Hand den Weg hinaufschwankt, wird ein freundlicher Gruß zu teil. Es sind zwei alte Bekannte, fast möcht ich sagen Freunde, die sich hier begegnen. Demütig zieht der Blinde sein Käppchen, und antwortet auf seines Pastors Gruß mit einem dankerfüllten herzlichen Segenswunsch. Seit wieviel Jahren ist ihm das Pastorat eine bekannte und liebe Stätte; nie hat er umsonst seine Schritte dorthin gelenkt, nie ist er leer von dort zurückgekehrt. Der Bettler setzt mit unsicher tastendem Schritt seinen Weg fort und lächelt so friedevoll bei geschlossenen Augen. Er träumt von dem Brot, dem „weißen Brot“ und den Kuchen, die heute in seine sauber gewaschnen Säcke wandern sollen, welche ihm zu beiden Seiten herabhängen, — und von dem schönen Bier und dem süßen Meth träumt er, womit er sein altes, müdes Herz erquicken will. — Er ist klug, der blinde Anß, — o wie klug! mit seinen beiden Ohren und mit dem stillen, feinen Beobachter, der ihm hinter den Augenbrauen sitzt, hat er die fehlenden Augen mehr als doppelt ersetzt, hat in Höhen und Tiefen hineingeschaut, an welche das ameisenartig schaffende Alltagsvolk nicht denkt; hat des Menschenlebens Wechsel und Elend, hat Anfang und Ende wohl tausendmal im Herzen bewegt. Ihm ist die ganze Gemeinde bekannt, fast bekannter noch als dem alten Pastor selbst; denn vor diesem wirft man sich in seinen Sonntagsrock; doch wer geniert sich vor dem blinden Bettler! Er bekommt die Welt im Negligé zu sehen. Er weiß darum auch genau, wo Gottes Wort zu Hause ist, wo Zucht herrscht unter groß und klein, wo der Branntweinsteufel haust, wo der Jud als Ratgeber Eingang gefunden hat, wer den Gutsherrn bestiehlt, wer bei dem Krüger auf Kreide steht. Aber er schweigt; das Austragen ist seine Sache nicht; überhaupt kommt kein Lästerwort über seine Lippen. Nur
Paul Seeberg: Aus alten Zeiten : Lebensbilder aus Kurland. J. F. Steinkopf, Stuttgart 1885, Seite 110. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:SeebergAusAltenZeiten.pdf/108&oldid=- (Version vom 16.9.2022)