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haben. Dies ging so zu: Wie bereits erwähnt, schrieb ich am Tage der Übergabe von Rastatt, in der Erwartung, daß ich mit der Besatzung würde gefangen werden, einen Brief an meine Eltern, den ich meinem Hauswirt zur Besorgung anvertraute. Dieser Brief traf meine Eltern wie ein Donnerschlag, und sofort machte mein Vater sich auf, um womöglich seinen Sohn noch einmal zu sehen. In Rastatt angekommen, meldete er sich bei dem preußischen Kommandanten der Festung, von dem er hoffte, über mein Schicksal Kunde zu erhalten. Der Kommandant empfing ihn freundlich genug, wußte ihm aber nach einiger Nachfrage nichts weiteres zu sagen, als daß mein Name nicht auf den Listen der Gefangenen stehe. Erstaunt darüber, bat mein Vater um die Erlaubnis, die Kasematten, in denen die Gefangenen gehalten wurden, nach mir zu durchforschen. Diese Erlaubnis erhielt er, und ein Offizier begleitete ihn auf der angstvollen Suche. Von Kasematte zu Kasematte gingen sie, drei Tage lang, und Mann für Mann fragten sie die Gefangenen nach mir, aber alles umsonst. Mich fanden sie nicht, und obgleich manche sich meiner erinnerten, wußte doch niemand über mich Auskunft zu geben. Niemand hatte mich bei der Waffenstreckung gesehen. Auch auf Kinkel traf mein Vater im Gefängnis. „Was?“ rief dieser aus. „Auch Karl hier? O weh, ich glaubte ihn sicher in der Schweiz!“ In stillem Schmerz drückten die Männer sich die Hände.

Nachdem mein Vater so vergeblich nach mir geforscht, dämmerte ihm eine Hoffnung auf, ich möchte doch vielleicht entkommen sein. Von Bürgersleuten in Rastatt hörte er, es seien mehrere Flüchtlinge aus Baden drüben überm Rhein in Selz. Von diesen möchte einer imstande sein, über mich Nachricht zu geben. Wenige Stunden später war mein Vater in dem Wirtshaus in Selz, in dem die Flüchtlinge verkehrten. Dort nannte er seinen Namen; und nun erfuhr er die ganze Geschichte meiner Flucht, und wie ich noch vor wenigen Tagen in Selz gewesen und nach Straßburg abmarschiert sei, mit der Absicht, von dort sofort weiter zu gehen, wohin, wisse man nicht, wahrscheinlich nach der Schweiz. Mein Vater brach in Freudentränen aus und rief ein übers andre Mal: „Der Schwerenotsjunge! Nun muß ich schnell heim, um es der Mutter zu erzählen.“ Und da er kaum hoffen durfte, mich in Straßburg noch zu finden, und erwartete, bald aus der Schweiz von mir zu hören, so kehrte er ohne Verzug nach Bonn zurück. Einer der badischen Flüchtlinge, die meinen Vater im Wirtshause zu Selz gesehen und ihm die Auskunft über mich gegeben hatten, erzählte mir dies alles einen Monat später in der Schweiz, und er konnte sich dann noch selbst seiner Rührung kaum erwehren, als er mir die Freude meines Vaters beschrieb.



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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 157. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s157.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)