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Freundes war nun dahin. Wir erkannten die Notwendigkeit, selbst einen neuen Versuch zu unserer Rettung zu machen, ehe unsere Kräfte gänzlich schwanden. Wir sannen und sannen, ohne ein Wort zu sprechen, als höchstens: „Er kommt nun nicht mehr.“

Endlich tauchte in mir ein neuer Gedanke auf. Als wir während dieser dritten Nacht die Soldaten unter uns kräftig schnarchen hörten, flüsterte ich meinem Nachbar zu, indem ich meinen Mund seinem Ohr nahe brachte:

„Neustädter, haben Sie nicht, als wir über das Brennholz kletterten, ein kleines Häuschen bemerkt, das etwa fünfzig Schritt von hier steht?“ „Ja“, sagte Neustädter.

„Da muß ein armer Mann wohnen“, fuhr ich fort, – „wahrscheinlich ein Arbeiter. Einer von uns muß zu ihm ins Haus gehen und zusehen, ob er uns helfen kann. Ich würde gern selbst hingehen, aber ich müßte über Sie wegklettern – Neustädter lag der Öffnung in der Bretterwand am nächsten – und das möchte Geräusch geben. Sie sind ohnehin der Kleinste und Leichteste von uns. Wollen Sie es versuchen?“

„Ja.“

Ich hatte noch etwas Geld; man hatte uns nämlich kurz vor der Kapitulation unsere Löhnung ausbezahlt. „Nehmen Sie meinen Geldbeutel“, flüsterte ich, „und geben Sie dem Mann der in dem Häuschen wohnt, zehn Gulden davon, oder soviel er will. Sagen Sie ihm, er solle uns etwas Brot und Wein, oder auch nur Wasser schaffen und sich so bald als möglich erkundigen, ob die preußische Postenkette noch um die Festung herum steht. Sind die Posten eingezogen, so können wir morgen nacht noch einmal den Versuch machen, durch den Kanal fortzukommen. Gehen Sie jetzt und bringen Sie uns ein Stück Brot mit, wenn Sie können.“

„Gut.“

In einer Minute war Neustädter leicht und leise wie eine Katze durch das Loch in der Bretterwand verschwunden. Mein Herz schlug fast hörbar während seiner Abwesenheit. Ein falscher Tritt, ein zufälliges Geräusch konnte ihn verraten. Nach weniger als einer halben Stunde kam er zurück, ebenso leicht und lautlos wie er gegangen war, und streckte sich neben mir aus.

„Es ist alles gut gegangen“, flüsterte er. „Hier ist ein Stück Brot – alles was sie im Hause hatten. Und hier ist auch ein Apfel, den ich im Vorbeigehen von einem Baum gepflückt habe. Aber ich glaube, er ist noch grün.“

Das Brot und der Apfel waren schnell unter uns verteilt und mit Gier verzehrt. Dann berichtete Neustädter mit seinem Mund an meinem Ohr, er habe in dem kleinen Häuschen einen Mann und dessen Frau gefunden; der Mann, dem er die zehn Gulden gegeben, habe ihm fest versprochen, uns Nahrung und auch die gewünschte Kunde über den Stand der Dinge außerhalb der Festung zu bringen.

Das erfrischte unsere Lebensgeister, und beruhigt schliefen wir abwechselnd bis zum hellen Morgen. Nun erwarteten wir jeden Augenblick unseren Befreier. Aber eine Stunde nach der andern verging

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 152. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s152.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)