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Verzweiflung nahe. Aber als ich das Gitter mit beiden Händen ergriff, wie wohl ein Gefangener an den Eisenstäben seines Kerkerfensters rüttelt, gewahrte ich, daß es sich ein wenig hin- und herbewegen ließ, und eine weitere Untersuchung ergab, daß es nicht ganz bis auf den Boden reichte, sondern etwa anderthalb bis zwei Fuß davon abstand. Wahrscheinlich war es so eingerichtet, daß es aufgezogen und heruntergelassen werden konnte, um so den Kanal zum Reinigen zu öffnen und dann wieder zu schließen. Glücklicherweise hatte während der Belagerung niemand von diesem Gitter gewußt oder daran gedacht, und so war uns die Möglichkeit des Entkommens geblieben. Freilich mußten wir, um unter dem Gitter durchzuschlüpfen, mit dem ganzen Körper durch das Wasser kriechen; aber das hielt uns nicht ab. So drangen wir denn rüstig vor, und als wir glaubten, nahe bei der Mündung des Kanals angekommen zu sein, hielten wir einen Augenblick an, um unsere Kraft und Geistesgegenwart für den gefährlichen Moment des Hinaustretens ins Freie zu sammeln.

Da schlug ein furchtbarer Laut an unsere Ohren. Dicht vor uns, nur wenige Schritte entfernt, hörten wir eine Stimme „Halt Werda!“ rufen, und sogleich antwortete eine andere Stimme. Wir standen still wie vom Donner gerührt. In kurzer Zeit vernahmen wir ein anderes „Halt Werda!“ in etwas größerer Entfernung. Dann wieder und wieder denselben Ruf immer entfernter. Es war offenbar, daß wir uns unmittelbar bei der Mündung des Kanals befanden, daß draußen eine dichte Kette von preußischen Wachtposten stand, und daß soeben eine Ronde oder Patrouille bei dieser Kette vorüber passiert war. Leise, mit angehaltenem Atem, schlich ich noch ein paar Schritte vorwärts. Da war denn wirklich die Ausmündung des Kanals, von so dichtem Gebüsch überwachsen, daß sie in der dunklen Regennacht fast so finster blieb wie das Innere. Aber mich geräuschlos aufrichtend, konnte ich doch die dunkeln Gestalten eines preußischen Doppelpostens dicht vor mir erkennen, so wie auch das Feuer von Feldwachen in einiger Entfernung. Hätten wir nun auch, was unmöglich schien, unbemerkt ins Freie gelangen können, so wäre doch offenbar der Weg nach Steinmauern uns verschlossen gewesen.

Leise, wie wir gekommen, duckten wir uns in unseren Kanal zurück und suchten dort für den Augenblick Sicherheit. Glücklicherweise hatte der Regen aufgehört. Das Wasser war freilich noch hoch, aber es stieg doch nicht mehr. „Zurück zu unserer Bank!“ flüsterte ich meinen Gefährten zu. Wir krochen unter dem Gitter durch und fanden unser Brett wieder. Da saßen wir denn, dicht aneinandergedrängt. Unsere Beratung über das, was nun zu tun sei, hatte eine gewisse Feierlichkeit. Der Worte gab es wenige, des ernsten Nachdenkens viel. Ins Feld hinaus konnten wir nicht – das war klar. Längere Zeit im Kanal bleiben auch nicht, ohne die Gefahr, bei mehr Regen zu ertrinken. Es blieb also nichts übrig, als in die Stadt zurückzukehren. Aber wie konnten wir in die Stadt zurück, ohne den Preußen in die Hände zu fallen? Nachdem wir diese Gedanken flüsternd ausgetauscht, trat eine lange Pause ein. Endlich unterbrach ich das Schweigen: „Essen und trinken wir etwas; vielleicht kommt dann Rat.“ Adam packte

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 147. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s147.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)