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den umherlaufenden oder zechenden Leuten werden ließen, fanden doch keine böswillige Widersetzlichkeit. Die Zahl derjenigen, die ihre Pflicht taten, war groß genug, um den nötigsten Dienst zu versehen und die Ordnung leidlich aufrecht zu erhalten.

Gegen Tagesanbruch streckte ich mich, von Müdigkeit übermannt, im großen Schloßsaal noch einmal auf mein gewohntes Sofa, und nach einigen Stunden tiefen Schlafs wachte ich mit dem Gedanken auf: „Heute wirst du gefangen und vielleicht morgen schon totgeschossen.“ Ich nahm von der Betty im Deckengemälde Abschied und ging dann nach dem Hauptquartier, wo ich hörte, daß Corvin nichts habe ausrichten können, und daß die Übergabe auf Gnade oder Ungnade beschlossen sei. Um 12 Uhr mittags sollten die Truppen aus den Toren marschieren und draußen auf dem Glacis der Festung vor den dort aufgestellten Preußen die Waffen strecken. Die Befehle waren bereits ausgefertigt. Ich ging nach meinem Quartier am Marktplatz, um meinen letzten Brief an meine Eltern zu schreiben. Ich dankte ihnen darin für alle Liebe und Sorge, die sie mir erwiesen, und bat sie, mir zu verzeihen, wenn ich ihnen ihre Ergebenheit jemals übel vergolten oder ihre Hoffnungen getäuscht hätte. Ich sagte ihnen, ich habe meiner ehrlichen Überzeugung folgend, für die Sache des Rechts und des deutschen Volks die Waffen ergriffen, und daß, wenn es mein Los sein sollte, sterben zu müssen, es ein ehrenhafter Tod sein werde, dessen sie sich nicht zu schämen brauchten. Diesen Brief übergab ich dem guten Herrn Nusser, meinem Wirt, der mir mit Tränen in den Augen versprach, ihn der Post zu übergeben, sobald die Stadt wieder offen sein werde.

Unterdessen nahte die Mittagsstunde. Ich hörte bereits die Signale zum Antreten auf den Wällen und in den Kasernen, und ich machte mich fertig, zum Hauptquartier hinaufzugehen. Da schoß mir plötzlich ein neuer Gedanke durch den Kopf.

Ich erinnerte mich, daß ich vor wenigen Tagen auf einen unterirdischen Abzugskanal für das Straßenwasser aufmerksam gemacht worden war, der bei dem Steinmauerer Tor aus dem Innern der Stadt unter den Festungswerken durch ins Freie führte. Er war wahrscheinlich ein Teil eines unvollendeten Abzugssystems. Der Eingang des Kanals im Innern der Stadt befand sich in der Fortsetzung eines Grabens oder einer Gosse, nahe bei einer Gartenhecke, und draußen mündete er in einem von Gebüsch überwachsenen Graben an einem Welschkornfelde. Sobald diese Umstände zu meiner Kenntnis gekommen waren, hatte ich daran gedacht, daß, wenn die inneren und äußeren Mündungen dieses Kanals nicht scharf bewacht würden, Kundschafter sich durch ihn ein- und ausschleichen könnten. Ich machte Meldung davon, aber sogleich darauf kam die Unterhandlung mit dem Feinde, die Sendung Corvins und die Aufregung über die bevorstehende Kapitulation, die mir die Kanalangelegenheit aus dem Sinne trieben. Jetzt im letzten Moment vor der Übergabe kam mir die Erinnerung wie ein Lichtblitz zurück. Würde es mir nicht möglich sein, durch diesen Kanal zu entkommen? Würde ich nicht, wenn ich so das Freie erreichte, mich bis an den Rhein durchschleichen, dort einen Kahn finden und nach dem französischen

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 144. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s144.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)