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Ich war außer mir vor Begierde, die Schmach der letzten Nacht auszuwaschen und für unsere Sache auch unter ungünstigen Umständen noch das Äußerste zu versuchen. Meine Reden wurden immer heftiger, aber umsonst. Der Abend kam, die Menge verlief sich, und ich mußte mir endlich gestehen, daß die Leute, die wir vor uns hatten, nicht zu einer entschlossenen Tat angefeuert werden konnten. Unger, Meyer und ich beschlossen, dahin zu gehen, wo gekämpft wurde, machten uns auf den Weg nach Elberfeld und erreichten unser Ziel am nächsten Tage.

Dort fanden wir Barrikaden auf den Straßen, viel Lärm in den Wirtshäusern, eine nur geringe Zahl von Bewaffneten, und weder systematisches Kommando noch Disziplin. Hier war offenbar kein Erfolg in Aussicht. Hier konnte es nichts geben, als einen von vornherein hoffnungslosen Kampf, oder gar eine sofortige Kapitulation. „Hier ist es nichts,“ sagte ich zu Unger, „ich gehe nach der Pfalz.“ Meyer war bereit mich zu begleiten. Wir befanden uns bald an Bord eines rheinaufwärts fahrenden Dampfers. Ich ordnete brieflich an, daß mir sofort einige Sachen zu meiner Ausrüstung an unsern schon erwähnten braven Frankonenfreund den Wirt Nathan in St. Goarshausen nachgeschickt werden sollten, und am Abend desselben Tages waren wir im Schatten des Lurleifelsens unter Nathans gastlichem Dach.

Nach den furchtbaren Aufregungen der letzten vier Tage kam ich da zum erstenmal wieder zu ruhiger Besinnung. Als ich von einem langen und tiefen Schlaf erwachte, erschien mir das Vergangene wie ein wüster Traum, und dann doch als grelle, furchtbare Wirklichkeit. Der Gedanke ging mir durch den Kopf, daß ich nun, obgleich vorläufig in Nathans Hause sicher genug, doch eigentlich jetzt ein von der Obrigkeit Verfolgter, ein Landflüchtiger sei, denn es war nicht denkbar, daß die Regierung einen Versuch zur Stürmung eines Zeughauses ungeahndet werde passieren lassen.

Dies war ein eigentümlich unbehagliches Gefühl; ein viel häßlicheres aber, daß ich auf die Handlung, der ich meine Ächtung verdankte, obgleich ich sie nach wie vor für recht und patriotisch hielt, doch nicht stolz sein konnte, da sie einen so schmählichen Ausgang genommen – schmählich genug in der Tat, um mir die Rückkehr zu meinen Freunden unmöglich zu machen, solange diese Schmach nicht ausgewaschen sei. Am tiefsten aber grämte es mich, nun zu wissen, daß alle Aufstandsversuche in Preußen fehlgeschlagen seien, und daß jetzt die preußische Regierung imstande sein werde, ihre ganze Macht gegen die Aufständischen in Baden und in der Pfalz zu wälzen. Freilich erwärmte ich mich dann an dem Glauben, daß eine so große, so gerechte, so heilige Sache wie die der deutschen Einheit und Volksfreiheit unmöglich verloren gehen könne, und daß ich doch noch Gelegenheit haben werde, zu ihrem Siege, wenn auch nur ein Geringes, beizutragen. Nie werde ich die Stunden vergessen, die ich, diese Dinge besprechend, mit Meyer und mit Wessel, einem von Bonn zu uns heraufgekommenen Frankonenfreunde, unter dem Lurleifelsen auf und ab ging – jener schönsten, traumhaftesten Nische des lieben Rheintals. Meyer sah seine Lage etwas nüchterner an als ich die meinige. Nach reiflicher Überlegung, in der Rücksichten auf seine Familie wohl eine wichtige Rolle spielten,

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 119. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s119.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)