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Nationalparlament habe überhaupt kein Recht, ihm oder irgend jemandem eine Krone anzubieten; solch ein Anerbieten könne rechtmäßigerweise nur von der freien Entschließung der deutschen Fürsten ausgehen. Auch würde die Annahme der deutschen Kaiserkrone mit seinem Gefühl freundschaftlicher Verbindlichkeit Österreich gegenüber nicht verträglich sein. Diese und ähnliche Gründe für die Nichtannahme der Reichsverfassung wurden von dem Könige teils öffentlich, teils vertraulich angegeben. Vielleicht lag der schwerwiegendste Grund, der den schwachmütigen Monarchen schreckte, in der Wahrscheinlichkeit, daß er die deutsche Kaiserwürde, einmal angenommen, in der Folge mit den Waffen gegen Österreich und Rußland werde verteidigen müssen, – eine Besorgnis, die auf fast naive Weise zum Ausdruck kam in einer Antwort, die der König dem auf Annahme der Kaiserwürde dringenden Herrn von Beckerath gab: „Wenn Sie Ihre beredten Worte an Friedrich den Großen hätten richten können, der wäre Ihr Mann gewesen; ich bin kein großer Regent.“ In der Tat hat Friedrich Wilhelm IV. vom ersten Tage seiner Regierung bis zu deren unrühmlichem Ende genugsam bewiesen, daß er nicht dazu gemacht war, der erste Kaiser des neuen deutschen Reiches zu sein. Er schwankte stets und blieb nur beständig in seiner Schwäche.

Die Ablehnung der Kaiserwürde und der Reichsverfassung durch den König von Preußen verwandelte den allgemeinen Enthusiasmus in ebenso allgemeine Bestürzung und Indignation. Am 11. April erklärte das Natonalparlament, an seiner Reichsverfassung unwandelbar festhalten zu wollen. Am 14. hatten die Kammern und Regierungen von 28 deutschen Staaten ihre unbedingte Annahme dieser Verfassung und des preußischen Kaisertums ausgesprochen, aber Friedrich Wilhelm IV. blieb bei seiner Ablehnung und die Könige von Bayern, Hannover und Sachsen bei ihrer Renitenz. Am 4. Mai nun forderte das Nationalparlament die „Regierungen, die gesetzgebenden Körper, die Gemeinden der Einzelstaaten, das gesamte deutsche Volk auf, die Verfassung des deutschen Reiches zur Anerkennung und Geltung zu bringen.“ Dieser Beschluß klang einem Aufruf zu den Waffen sehr ähnlich. In verschiedenen Teilen Deutschlands war ihm bereits vorgegriffen worden. In der bayerischen Rheinpfalz hatte schon am 30. April das Volk sich mit seltener Einmütigkeit erhoben und in kolossalen Massenversammlungen im Widerspruch gegen die bayerische Regierung erklärt, daß es mit der Reichsverfassung stehen und fallen werde. Die patriotischen Pfälzer gingen sogar weiter. Sie errichteten eine provisorische Regierung, welche die von dem König von Bayern eingesetzten Behörden verdrängte. Die Erhebung pflanzte sich rasch nach Baden fort, wo die ganze Armee des Großherzogtums mit Ausnahme einer kleinen Abteilung Kavallerie sich ihr anschloß und den Aufständischen die Festung Rastatt in die Hände lieferte. Der Großherzog von Baden flüchtete und an seine Stelle trat auch dort eine aus Volksführern zusammengesetzte provisorische Regierung. Im Königreich Sachsen erhob sich das Volk der Hauptstadt Dresden, um den König zur Anerkennung der Reichsverfassung zu zwingen. Auch dort sah sich der König nach kurzem Kampf zwischen Volk und Militär zur Flucht

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 112. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s112.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)