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einen von allem Volk gewählten Reichstag haben, ob das Haupt der Nationalregierung ein erblicher, oder ein Wahlkaiser, oder ein Präsident, oder ein Exekutivkollegium sein, sondern auch, aus welchen Bestandteilen das deutsche Reich zusammengesetzt sein, ob die deutsch-österreichischen Länder einen Teil davon ausmachen, und welcher der beiden deutschen Großmächte, Österreich oder Preußen, in diesem Falle die Hegemonie in Deutschland zugestanden werden solle. Lange dauerte der parlamentarische Kampf, und erst dann, als der österreichische Reaktionsminister Fürst Felix Schwarzenberg für das ganze als Einheitsstaat organisierte Österreich mit seinen nahezu dreißig Millionen nichtdeutscher Einwohner den Eintritt in den deutschen Bund verlangte – eine Forderung, mit der die Schöpfung eines deutschen Nationalreiches durchaus unvereinbar war –, erst dann konnte im Parlament eine Mehrheit gefunden werden, die sich für das erbliche Kaisertum erklärte und, am 28. März 1849, den König von Preußen zum deutschen Kaiser erwählte.

Wie unbeliebt auch die Preußen und ihr König außerhalb der preußischen Grenzen, und besonders in Süddeutschland, gewesen sein mochten, und wie wenig auch die demokratische Partei die Schöpfung einer Exekutivgewalt des deutschen Reiches in der Form des erblichen Kaisertums gewünscht hatte, dennoch flammte, als das Einigungswerk endlich vollendet schien, der nationale Enthusiasmus noch einmal auf in heller, freudiger Glut. Eine aus 33 Mitgliedern bestehende Deputation des Nationalparlaments mit dem Präsidenten der Versammlung an der Spitze begab sich, auf dem Wege überall mit der lautesten Begeisterung begrüßt, nach Berlin, um dem König von Preußen die verfassungsmäßige Kaiserwürde anzubieten und ihn zur Annahme aufzufordern. Und nun kam die bitterste Enttäuschung von allen.

Freilich wußte man, daß Friedrich Wilhelm IV., an seinem absolutistischen Mystizismus festhaltend, den souveränen Charakter des Nationalparlaments als einer konstituierenden Versammlung nicht anerkannt und für die Krone Preußen sowie für die anderen deutschen Fürsten das Recht, das Verfassungswerk zu revidieren, beansprucht hatte. Auch wußte man, daß die vom Parlament hergestellte Verfassung für seinen Geschmack viel zu demokratisch war. Aber nachdem alle deutschen Regierungen, mit Ausnahme der königlichen von Bayern, Sachsen und Hannover, (Österreich kam jetzt nicht mehr in Betracht) dem Druck der öffentlichen Meinung nachgebend, sich bereit erklärt hatten, die Reichsverfassung mitsamt dem Kaisertum anzunehmen und es gewiß war, daß auch die drei zurückhaltenden Könige keinen Widerstand wagen würden, da glaubte das noch immer gern vertrauende Volk, der Mann, der im März 1848 auf den Straßen von Berlin feierlich erklärt, er wolle sich an die Spitze der nationalen Bewegung stellen, und Preußen solle in Deutschland aufgehen, könne unmöglich das nationale Einigungswerk in dem Augenblick, da es zu seiner Vollendung nur noch seiner Einwilligung bedurfte, von sich stoßen und vernichten wollen. Doch das war es, was geschah. Friedrich Wilhelm IV., der sich über die Weise, in welcher Deutschland geeinigt werden könnte, allerlei phantastischen Träumereien hingegeben hatte, fand die ihm gebotene Verfassung in allen wesentlichen Punkten von seinen eigenen Konzeptionen abweichend. Das

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 111. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s111.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)