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der Stunde zu verscherzen, indem er durch eigensinniges Bestehen auf dem Minderwesentlichen die Erreichung des Wesentlichen gefährdet. Die Welt hat wohl nie eine politische Versammlung gesehen, die eine größere Zahl von edlen, gelehrten, gewissenhaften und patriotischen Männern in sich schloß, und es gibt vielleicht kein ähnliches Buch, reicher an gründlichem Wissen und an Mustern hoher Beredsamkeit als die stenographischen Berichte des Frankfurter Parlaments. Aber ihm fehlte das Genie, das die Gelegenheit erkennt und rasch beim Schopf ergreift; – es vergaß, daß in gewaltsam bewegter Zeit die Weltgeschichte nicht auf den Denker wartet. Und so sollte ihm alles mißlingen.

Das Parlament erkannte allerdings bald nach seiner Eröffnung, daß, wenn es nicht eine bloße Konstituante, sondern auch, bis die Verfassung fertig sei, eine zeitweilige Regierung vorstellen wollte, es dazu eine Exekutivbehörde haben müsse; und so beschloß es die Einrichtung einer „Provisorischen Zentralgewalt“ mit einem „Reichsverweser“ an der Spitze. Und zu diesem Amte wählte es den im Geruch des Liberalismus stehenden Erzherzog Johann von Österreich, der sich denn auch mit einem Reichsministerium umgab. Aber, wie schon früher erwähnt, sein Minister des Auswärtigen hatte keine diplomatische Dienstmaschinerie unter sich, der Kriegsminister keine Armee, der Flottenminister keine nennenswerten Schiffe und der Finanzminister kein Geld. Alle diese Dinge, welche die substantielle Macht einer Regierung ausmachen, blieben doch in den Händen der Einzelstaaten, und die Disposition des Nationalparlaments und seiner Zentralgewalt darüber erstreckte sich nur so weit, wie die Einzelregierungen dieselbe zugestanden – und das war nur so weit, wie die Einzelregierungen glaubten, durch die Zeitlage zu diesem Zugeständnis genötigt zu sein. Die eigentliche Lebensquelle der Macht des Parlaments blieb also nach wie vor der Volkswille, wie er sich nötigenfalls durch des Volkes revolutionäre Kraft geltend machen konnte. Diese revolutionäre Kraft stand nun am Ende des Jahres 1848 der Fürstengewalt bei weitem nicht mehr so gebietend gegenüber wie im Frühling. Während ein Teil des im März so enthusiastischen Volkes der beständigen Aufregungen mehr oder minder müde geworden war, hatten sich die Fürsten und ihre unmittelbaren Anhänger von ihrem Märzschrecken erholt, sich des Beamtentums und der Militärmacht neu versichert, ihre Ziele klar ins Auge gefaßt, und tatsächlich an den großen Zentralpunkten Wien und Berlin im Oktober und November dem revolutionären Geist sehr schwere Niederlagen beigebracht. Die Möglichkeit eines neuen revolutionären Anlaufs im großen Maßstabe war also weit geringer geworden. Unter diesen Umständen konnte das Nationalparlament immer noch seine Verordnungen beschließen und durch die Zentralgewalt proklamieren lassen – aber die Einzelregierungen fühlten mehr und mehr, daß sie sich daran nicht viel mehr zu kehren brauchten, als ihnen gut schien. Nun hatte das Parlament noch seine Hauptaufgabe zu lösen: Die Verfassung des deutschen Reiches zu vollenden und einzuführen und damit dem nationalen Bedürfnisse des deutschen Volkes Genüge zu tun.

Diese Aufgabe war keine einfache. Es galt zu entscheiden, nicht allein was für staatsbürgerliche Rechte der Deutsche besitzen, ob Deutschland

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 110. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s110.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)