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seine Entstehung, und es war seine natürliche, allgemein verstandene Mission, die deutschen Völker unter einer einheitlichen Verfassung und Nationalregierung in eine große Nation zu verschmelzen. Unmittelbar nach der Märzrevolution hatten die deutschen Regierungen, auch die österreichische für ihre deutschen Länder, diese Mission als eine rechtmäßige anerkannt und unter ihrer Mitwirkung haben im Mai 1848 die Wahlen zum Nationalparlament stattgefunden. Die große Mehrheit seiner Mitglieder sowie das deutsche Volk im allgemeinen sahen denn auch in dem Parlament den Repräsentanten der Volkssouveränität im nationalen Sinne. Es war zu erwarten, daß die Fürsten und ihre als Hofparteien zu bezeichnenden Anhänger sich in diese Auffassung nur so lange und nur insoweit fügen würden, als sie zu müssen glaubten. Nur sehr wenige von ihnen waren liberal genug, um sich eine Beschränkung ihrer Fürstengewalt mit Gleichmut gefallen zu lassen. Jeden Gewinn des Volkes an Macht fühlten sie als ihren eigenen Verlust. Ebenso waren die meisten von ihnen der Einrichtung einer starken Nationalregierung abhold, da diese das Aufgeben mancher Souveränitätsrechte der Einzelstaaten an den nationalen Gesamtstaat bedingte. Es war nicht nur eine nationale Republik, die sie fürchteten, sondern auch das Kaisertum, das geeignet sein würde, sie in das Verhältnis von Vasallen hinabzudrücken. Die deutschen Fürsten, mit Ausnahme des einen, der hoffen durfte, den Kaiserthron zu besteigen, waren also die natürlichen Feinde der in einem starkgefügten Gesamtstaat verkörperten deutschen Einheit. Es mag ein paar national gesinnte Männer unter ihnen gegeben haben, die sich über diese Besorgnis hinwegzusetzen vermochten, aber gewiß nur wenige. Österreich wünschte ein einiges Deutschland in irgendwelcher Form nur dann, wenn es darin die Stellung der leitenden Macht einnehmen konnte.

Ihnen gegenüber stand das Nationalparlament in Frankfurt, das Kind der Revolution. Es hatte zu seiner unmittelbaren Verfügung keine staatliche Maschinerie, keine Armee, keinen Schatz, – nur seine moralische Autorität; all die andern Dinge waren in den Händen der Einzelstaaten. Die einzige Macht des Nationalparlaments bestand in dem Volkswillen. Und diese Macht war hinreichend für die Erfüllung seiner Mission, solange der Volkswille sich stark genug erwies, selbst durch revolutionäre Aktion im Notfalle, die widerstrebenden Interessen und Tendenzen des Fürstentums in Schach zu halten. Wollte daher das Parlament seines Erfolges in der Schöpfung des deutschen Einheitsstaates sicher sein, so mußte es seine Reichsverfassung vollenden und seinen Kaiser wählen und einsetzen, während das revolutionäre Prestige des Volkes noch ungebrochen war – in den ersten drei oder vier Monaten nach der Märzrevolution. Kein deutscher Fürst würde sich damals geweigert haben, die Kaiserkrone mit einer noch so demokratischen Verfassung anzunehmen, und keiner, noch so viele seiner ehemaligen Souveränitätsrechte dem Einheitsstaat zu opfern.

Aber das Parlament litt an einem Übermaß von Geist, Gelehrsamkeit und Tugend und an einem Mangel an derjenigen politischen Erfahrung und Einsicht, die erkennt, daß das Bessere oft der Feind des Guten ist und daß der wahre Staatsmann sich hüten wird, die Gunst

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 109. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s109.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)