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gemäß einige Heidelberger Studenten treffen sollte, um in ihrer Gesellschaft die Reise nach Eisenach[1] fortzusetzen. Gedrückten Herzens saßen wir bis tief in die Nacht zusammen, denn wir alle fühlten, daß die Sache der Freiheit und der Nationalsouveränität einen furchtbaren Schlag erlitten hatte. Die königlich preußische Regierung hatte dem Nationalparlament, das die Souveränität des deutschen Volkes repräsentierte, erfolgreich Schach geboten. Diejenigen, die sich „das Volk“ nannten, hatten ein Attentat gemacht auf die aus der Revolution hervorgegangene Verkörperung der Volkssouveränität, und[2] diese hatte gegen den Haß des Volkes Schutz suchen müssen bei der bewaffneten Macht der Fürsten. Damit war der im März begonnenen Revolution tatsächlich[3] das Rückgrat gebrochen. So weit sahen wir freilich noch nicht. Doch fühlten wir, daß großes Unheil geschehen war. Nur richtete der jugendliche Mut sich an der Erwartung auf, daß das Verlorene durch eine günstige Wendung der Dinge, und besonders durch energische und wohlgeleitete Aktionen wieder gewonnen werden könnte.

Am nächsten Tage besuchte ich mit meinen Freunden die Galerie der Paulskirche, in der das Nationalparlament saß. Mit der tiefen Ehrfurcht, deren Organ, um mich in der Sprache der Phrenologie auszudrücken, bei mir immer sehr stark entwickelt gewesen ist, betrat ich die historische Stätte, auf der sich in jenen Tagen das Schicksal der Revolution von 1848 so traurig abspiegelte: Auf der „Rechten“ die Männer, denen es zumeist darum zu tun war, die alten „vormärzlichen“ Zustände wieder zurückzuführen, mit dem Lächeln des Triumphes auf den Lippen; im „Zentrum“ die Anhänger der mehr oder minder liberalen konstitutionellen Monarchie von der steigenden Angst des Zweifels gequält, ob sie die revolutionäre Demokratie bekämpfen könnten, ohne die absolutistische Reaktion übermächtig zu machen; auf der „Linken“ die Demokraten und Republikaner mit dem drückenden Bewußtsein, daß die Massen, in denen sie die Quelle ihrer Macht finden sollten, sie durch einen wilden Ausbruch schwer kompromittiert und der Reaktion die gefährlichsten Waffen in die Hände geliefert hatten.

Ich erinnere mich wohl der Männer, deren Anblick ich am begierigsten suchte. Auf der Rechten war es Radowitz, dessen fein geschnittenes, etwas orientalisch angehauchtes Antlitz wie das verschlossene Buch der Geheimnisse der Reaktionspolitik erschien; im Zentrum Heinrich von Gagern mit seiner imposanten Gestalt und seinen scheinbar gewitterschweren Brauen; auf der Linken der Silenuskopf Robert Blums, der wohl als das Ideal eines Volksmannes gelten konnte, und die kleine eingeschrumpfte Figur des alten Ludwig Uhland, dessen Lieder wir so oft gesungen, und der nun mit so rührender Treue zu dem stand, was er als das gute Recht seines Volkes erkannte.

Am Abend gings weiter nach Eisenach, und bald fand ich mich inmitten einer ebenso heiteren wie anziehenden Gesellschaft. Das freundliche Städtchen Eisenach, am Fuße der Wartburg liegend, wo Luther die Bibel in gutes Deutsch übersetzt und dem Teufel das Tintenfaß an den Kopf geworfen, war schon von der alten Burschenschaft als Schauplatz ihrer großen Demonstrationen gewählt worden wenige Jahre nach den Freiheitskriegen, als es galt, Fürsten und Völker an die in


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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 096. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s096.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)