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gebildet worden sei, bestehend aus Mitgliedern der liberalen Opposition; daß eine preußische Nationalversammlung berufen werden sollte, eine frei gewählte, um dem Königreich Preußen eine Verfassung zu geben, und daß von dem Volke aller deutschen Staaten ein deutsches Nationalparlament gewählt werden und sich in Frankfurt versammeln sollte, um das ganze Deutschland unter einer konstitutionellen Nationalregierung zu vereinigen. Das Volk von Berlin war außer sich vor Freude. Nur eine Stimme des Mißtrauens wurde laut, die eines unbekannten Mannes, der, nachdem der König gesprochen, aus der Menge hervor ausrief: „Glaubt ihm nicht, Brüder! Er lügt! Er hat immer gelogen!“ Einige Bürgerwehrleute schützten den unglücklichen Rufer vor dem Zorn der Umstehenden und brachten ihn rasch zu der nächsten Polizeiwache, wo er bald als ein Verrückter entlassen wurde. „Die Helden, die für die große Sache der politischen und sozialen Freiheit gestritten und sie uns durch ihre todesmutige Hingebung erkämpft haben“, wie der Magistrat von Berlin in einer Proklamation die im Straßenkampf Gefallenen nannte, wurden von 20000 Bürgern im feierlichen Zuge zum Begräbnis im Friedrichshain begleitet, und der König stand auf dem Balkon mit entblößtem Haupt, als die Särge das Königsschloß passierten.

Dies war die große Kunde, die von Berlin aus über das ganze Land ging. So schien die Sache der bürgerlichen Freiheit einen entschiedenen Sieg gewonnen zu haben. Die Könige und Fürsten, zuvorderst der König von Preußen, hatten feierlich gelobt, dieser Sache zu dienen. Der Jubel des Volkes kannte keine Grenzen.

Seit dem deutsch-französischen Kriege von 1870 und der Errichtung des neuen deutschen Kaiserreichs hat man sich in Deutschland vielfach daran gewöhnt, das Jahr 1848 das „tolle Jahr“ zu nennen und die „Gedankenlosigkeit“ zu verspotten, mit welcher damals großartige Programme entworfen, umfassende Forderungen gestellt, weitausschauende Bewegungen ins Werk gesetzt und dann grausamen Enttäuschungen und Katastrophen entgegengeführt wurden. Verdient das deutsche Volk von 1848 solchen Spott? Wahr ist, daß die Repräsentanten des Volksgeistes jener Zeit nicht verstanden, mit den bestehenden Verhältnissen zu rechnen und eine siegreich und hoffnungsvoll begonnene Bewegung zu dem gewünschten Ende zu führen. Ebenso wahr ist es, daß dadurch jene Bewegung zerfahren und in manchen Dingen phantastisch erschien. Aber wen sollte das jetzt noch, im Rückblick gesehn, wundernehmen? Hier war ein Volk, das, obgleich in Wissenschaft, Philosophie, Literatur und Kunst hoch entwickelt, in politischen Dingen unter strenger Vormundschaft gelebt hatte. Dieses Volk hatte nur aus der Ferne beobachten können, wie andere Nationen ihr Selbstbestimmungsrecht oder ihren tätigen Anteil an der Regierung ausübten, und diese fremden Nationen hatte es bewundern und vielleicht beneiden lernen. Es hatte das Wirken freier Institutionen in Büchern studiert und in Zeitungsberichten verfolgt, sich nach dem Besitz solcher Institutionen gesehnt und nach ihrer[1] Einführung im eigenen Lande gestrebt. Aber bei all diesem Beobachten Lernen, Sehnen und Streben hatte das herrschende Bevormundungssystem es von aller Erfahrung in der Ausübung des


  1. Vorlage: ihren
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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 083. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s083.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)