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Volke die geforderten Rechte und Freiheiten vorzuenthalten, Gewalt an die Stelle der Petition treten müsse. Freilich sollte die politische Regeneration des Vaterlandes zuerst auf friedlichem Wege erstrebt werden.

Wenige Tage nach dem Ausbruch dieser Bewegung wurde ich neunzehn Jahre alt. Ich erinnere mich, von dem, was vorging, so gänzlich erfüllt gewesen zu sein, daß ich meine Gedanken kaum etwas anderem zuwenden konnte. Ich war wie manche meiner Freunde von dem Gefühl beherrscht, daß endlich die große Gelegenheit gekommen sei, dem deutschen Volke seine Freiheit und dem deutschen Vaterlande seine Einheit und Größe wieder zu gewinnen, und daß es nun die erste Pflicht eines jeden Deutschen sei, alles zu tun und alles zu opfern für diesen heiligen Zweck. Es war uns tiefer, feierlicher Ernst darum.

Der erste Dienst, den die neue Zeit uns auferlegte, hätte kaum lustiger sein können. Kurz nachdem die Nachricht von den revolutionären Ereignissen in Frankreich gekommen war, fing der Bürgermeister der Stadt Bonn an, zu fürchten, daß die öffentliche Sicherheit gefährdet sei. Freilich fielen trotz der allgemeinen Aufregung keine Ruhestörungen vor, aber der Bürgermeister, von allerlei Ängsten geplagt, bestand darauf, daß eine Bürgerwehr organisiert werden müsse, um des Nachts die Stadt und die nächste Umgegend abzupatrouillieren. Dieser Bürgerwehr beizutreten, wurden auch die Studenten aufgefordert, und da die Bürgerwehr auch auf unserem Programm stand, so leisteten wir dieser Aufforderung bereitwillig Folge. Ich meldete mich sogleich mit mehreren meiner Freunde; Studenten aus andern Kreisen taten dasselbe, und zwar in solcher Zahl, daß bald die Bürgerwacht großenteils aus Studenten bestand. Unsere Aufgabe war, Ruhestörer und verdächtige Individuen aufzugreifen und auf der Wache abzuliefern, Zusammenrottungen bösartiger Natur zum Auseinandergehen zu veranlassen, das Eigentum zu beschützen und überhaupt über die öffentliche Sicherheit zu wachen. Da nun in der Tat die öffentliche Sicherheit in keiner Weise bedroht war und das Patrouillieren in Stadt und Umgebung keinen ernsten Zweck hatte, so fanden die Studenten natürlich in der ganzen Sache eine Gelegenheit zu harmloser Belustigung. Mit „Schlägern“ bewaffnet, deren eiserne Scheiden man nach Kräften auf dem Pflaster rasseln ließ, zog man durch die Straßen. Jeder einzelne Bürger, den man in später Nacht draußen antraf, wurde in pomphaften Redensarten aufgefordert, auseinander zu gehen und sich nach seinen respektiven Wohnungen zu verfügen, oder, wenn ihm das besser gefiele, uns auf die Wachtstube zu begleiten und ein Glas mit uns zu trinken. Stießen wir einmal mit einer aus Bürgern bestehenden Patrouille zusammen, so wurde dieselbe unfehlbar als eine bösartige Zusammenrottung festgenommen und zur Wachstube gebracht, worauf dann ein fröhliches Verbrüderungsfest folgte. Und da die guten Bürgersleute auch den Humor der Situation leicht einsahen, so ließen sie sich den Spaß gern gefallen. Ein Hoch auf das „neue deutsche Reich“ und die „Konstitution auf breiter demokratischer Grundlage“ zu trinken, waren sie ebenso bereit wie wir.

Während dies lustig genug aussah, gestalteten sich sonst die Dinge sehr ernsthaft – so ernsthaft, wie es im Grunde des Herzens auch uns

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 077. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s077.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)