Seite:Schurz Lebenserinnerungen b1 s074.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

doch viel mehr, als er selbst wohl berechnet hatte. Wer mit absoluter Gewalt regieren will, der darf keine öffentliche Diskussion der Politik und Handlungen der Regierung durch Männer gestatten, die dem Volk näher stehen. Der Vereinigte Landtag konnte allerdings nicht beschließen, sondern nur debattieren. Aber daß er debattieren konnte, und daß diese Debatten tagtäglich durch getreue Zeitungsberichte in die Intelligenz des Landes übergingen, das war eine Neuerung von unberechenbarer Tragweite. Die Haltung des Vereinigten Landtages, auf dessen Bänken sich manche Männer von ungemeiner Fähigkeit und freisinnigen Grundsätzen zusammenfanden, war durchaus würdig, besonnen und maßvoll. Aber der Kampf gegen den Absolutismus begann sogleich, und das Volk folgte ihm mit erregter Teilnahme. Es geschah, was in der Weltgeschichte schon oft geschehen ist: jeder Schritt vorwärts brachte dem Volke die Notwendigkeit weiterer Schritte vorwärts zu lebhafterem Bewußtsein. Und als nun der König, sich der wachsenden Bewegung entgegenstemmend, die gemäßigsten Forderungen des Vereinigten Landtags mit schroffen Worten abschlug und die Versammlung „ungnädig“ entließ, da war die öffentliche Stimmung durch die Regierung selbst in die Bahn gelenkt worden, in der revolutionäre Gedanken wachsen. Einzelne revolutionäre Köpfe hatte es zwar schon lange gegeben. Aber in ihrer Isolierung hatten sie als Träumer gegolten und konnten nur geringe Gefolgschaft gewinnen. Jetzt aber verbreitete sich in weiten Kreisen das Gefühl, daß ein wirkliches Gewitter im Anzuge sei, wenn auch fast niemand die Schnelligkeit seines Kommens voraussah. Früher hatte man sich über das aufgeregt, was Thiers und Guizot in den französischen Kammern, oder Palmerston und Derby im englischen Parlament, oder gar was Hecker, Rotteck und Welcker in der kleinen badischen Landesversammlung sagten. Jetzt lauschte man mit nervöser Begierde jedem Wort, das im Vereinigten Landtag des bedeutendsten deutschen Staates von den Lippen Camphausens, Vinckes, Beckeraths, Hansemanns und anderer liberaler Führer fiel, und es lag ein Gefühl in der Luft, als ob dieser Vereinigte Landtag in seiner Stellung und Aufgabe der französischen Nationalversammlung des Jahres 1789 nicht ganz unähnlich sei. Im Kinkelschen Kreise waren diese Dinge oft Gegenstand lebhafter Besprechung.

Wir Studenten brachten diesen Ereignissen wohl weniger klares Verständnis, aber nicht geringeres Interesse entgegen, als die älteren Leute. Die Burschenschaft hatte ja auch ihre politische Tradition. In den Jahren unmittelbar nach den Befreiungskriegen hatte sie in erster Linie den Ruf nach der Erfüllung der gegebenen Versprechungen erhoben. Sie hatte mit Eifer den nationalen Sinn gepflegt, wenn dieser Eifer auch zuweilen in eine töricht-übertriebene Deutschtümelei ausartete. In den sogenannten Demagogenverfolgungen hatte sie eine ansehnliche Zahl der Opfer gestellt. Die politische Tätigkeit der alten Burschenschaft war allerdings von den jüngeren Verbindungen nicht fortgesetzt worden; aber „Gott, Freiheit, Vaterland“ war doch die Devise geblieben; man trug das verbotene schwarz-rot-goldene Band noch unter der Weste, und viele Mitglieder der neuen burschenschaftlichen Verbindungen erkannten es als ihre Pflicht an, der Tradition getreu, sich

Empfohlene Zitierweise:
Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 074. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s074.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)