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empfangen, daß sie aneinander ihre herzliche Freude hatten und die Kämpfe des Lebens mit einer Art von herausfordernder Heiterkeit zusammen durchkämpften. Noch stärker wurde dieser Eindruck, wenn man ihr Glück über die Kinder sah, mit denen ihre Ehe gesegnet war. Auch bildete das Kinkelsche Haus den Mittelpunkt eines Kreises geistesverwandter Menschen, deren gesellige Stunden an geistvoller Fröhlichkeit nichts zu wünschen übrig ließen. Es waren dies durchweg Männer und Frauen von freisinniger Denkart auf dem religiösen wie dem politischen Gebiet, die denn auch ihre Meinungen mit kecker Ungebundenheit auszusprechen liebten. An Stoff fehlte es in jenen Tagen nicht.

Die Revolte, die infolge der Ausstellung und Anbetung des sogenannten „heiligen Rocks“ in Trier unter den Katholiken ausgebrochen war und die deutsch-katholische Bewegung hervorgebracht hatte, stand noch in Blüte und gab auch unter den Protestanten dem Drang nach Denk- und Lehrfreiheit neue Anregung. Auch auf dem politischen Felde wehte ein scharfer Luftzug. Die traurige Selbstironie, die öde Kannegießerei vergangener Tage hatte dem Streben Platz gemacht, klar gesteckte Ziele ins Auge zu fassen, und auch dem Glauben, daß dieselben erreichbar seien. Man fühlte das Kommen großer Veränderungen, wenn man auch nicht erkannte, wie nahe es schon bevorstand. In dem Kinkelschen Kreise nun hörte ich manches klar ausgesprochen, was mir bis dahin nur mehr oder minder nebelhaft vorgeschwebt hatte. Ein Rückblick auf den damaligen politischen Geistes- und Gemütszustand der Klasse von Deutschen, zu denen ich gehörte, mag dazu dienen, deren Haltung in den Bewegungen, die dem Jahre 1848 vorangingen, verständlich zu machen.

Das patriotische Herz verweilte gern bei der Erinnerung an das heilige römische Reich deutscher Nation, das einst in seiner Blüte der bekannten Welt Gesetze vorgeschrieben. Aus dieser Erinnerung entsprang dann jene Kyffhäuserromantik mit ihren Zukunftsträumen von der Wiedergeburt deutscher Macht und Herrlichkeit, die für die Jugend einen so poetischen Reiz hatte. Mit Scham gedachte man der Zeit der nationalen Zerissenheit und des öden Absolutismus nach dem dreißigjährigen Kriege, als deutsche Fürsten, alles nationalen Gefühles bar, stets bereit standen, den Interessen und dem Ehrgeiz des Auslandes zu dienen, ja ihre eigenen Untertanen zu verkaufen, um mit dem Erlös den Luxus ihrer liederlichen Hofhaltung zu bestreiten; und mit gleicher Scham der Rheinbundsperiode, als eine Reihe deutscher Fürsten, die von Bayern, Sachsen und Württemberg an der Spitze, bloße Vasallen Napoleons wurden; als ein Teil Deutschlands dazu diente, den andern Teil dem verhaßten Fremdling zu Füßen zu legen, und als der Kaiser des hoffnungslos zerfallenen Reiches im Jahre 1806 seine Krone niederlegte und deutscher Kaiser und deutsches Reich auch dem Namen nach aufhörten zu sein.

Dann kam nach langer, leidenvoller Erniedrigung die große Volkserhebung gegen die napoleonische Zwingherrschaft im Jahre 1813, und mit ihr die Geburt des neuen deutschen Nationalgefühls. An dieses Nationalgefühl appellierte das berühmte Manifest von Kalisch, in dem der König von Preußen in Verbindung mit dem russischen Kaiser das

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 070. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s070.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)