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der Jahre 1848–49 ganz anders werden; aber zur Zeit, als ich Gymnasiast war, stand der Preußenhaß am Rhein noch in voller Blüte. Uns jungen Leuten war freilich die provinziale und besonders die religiöse Engherzigkeit ziemlich fremd. Aber wir teilten doch das vorherrschende Gefühl, daß da manches anders werden müßte; daß es ein Skandal sei, dem Volke Rede- und Preßfreiheit vorzuenthalten; daß der alte preußische Absolutismus einer konstitutionellen Regierungsform zu weichen habe; daß die der deutschen Nation im Jahre 1813 von den Fürsten gegebenen Versprechungen schmählich gebrochen worden seien, und daß das zersplitterte deutsche Vaterland in ein geeinigtes großes Reich mit freien politischen Institutionen zusammengeschmiedet werden sollte. Der unruhig aufstrebende deutsche Nationalgeist, der damals die Gemüter der gebildeten Stände durchwehte und in der Literatur beredten Ausdruck fand, erregte in uns die wärmste Begeisterung. Wie die geträumte Freiheit und nationale Einheit zuwege gebracht werden sollten – ob wir zu diesem Zweck, wie Herwegh in einem Gedichte empfahl, das wir alle auswendig hersagen konnten, die eisernen Kreuze aus der Erde reißen und daraus Schwerter schmieden müßten, oder ob es einen Weg friedlicher Entwicklung nach dem ersehnten Ziele gäbe –, darüber waren unsere Gedanken keineswegs klar. Um so fester aber standen uns die Zielpunkte selbst, und wir suchten uns durch fleißiges Lesen von Zeitungen und Flugschriften über die Vorgänge des Tages und die Gedankenströmungen im Volke zu unterrichten. Auch konnten wir uns nicht enthalten, unsere Gesinnungen gelegentlich laut werden zu lassen. Ich war in der Obersekunda, als eines Tages unser Lehrer im Deutschen – damals nicht mehr mein Freund Pütz, sondern ein anderer auch recht fähiger Mann – uns die Aufgabe stellte, als deutschen Aufsatz eine Gedächtnisrede auf die Schlacht bei Leipzig zu schreiben. Da ich es für meine Pflicht hielt, das zu sagen, was ich wirklich dachte, so ließ ich bei dieser Veranlassung meine Ansichten über die dem deutschen Volke nach so heldenmütigen Anstrengungen gewordene Behandlung und meine Hoffnung auf eine nationale Regeneration des deutschen Vaterlandes freimütig aus. Es war mir heiliger Ernst dabei. Ich schrieb die Gedächtnisrede sozusagen mit meinem Herzblut. Als der Professor – sein Name war Nattmann – uns in der Klasse unsere Hefte mit seinen kritischen Bemerkungen zurückgab, reichte er mir das meinige ohne ein Wort. Ich fand unter meinem Aufsatz die Zensur: „Stylistisch sehr gut; aber was für nebelhafte Ansichten!“ Nach der Unterrichtsstunde rief er mich zu sich, legte seine Hand auf meine Schulter und sagte: „Was Sie da geschrieben haben, klingt ja ganz brillant. Aber so etwas kann doch auf einem königlich preußischen Gymnasium nicht passieren. Tun Sie’s nicht wieder!“ Er gab uns nie wieder ein Thema, das politische Anspielungen hätte veranlassen können.

Unterdessen setzte ich meine literarischen Studien eifrig fort, und mein schriftstellerischer Schaffenstrieb, nicht wenig von dem gelegentlichen Beifall meiner vertrautesten Freunde angespornt, hielt mich in beständiger Tätigkeit. Ich schrieb lyrische Gedichte in Menge und auch mehrere Tragödien geschichtlichen Inhalts. Von diesen Jugendsünden ist keine erhalten geblieben, um mir durch ihren Anblick mein

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 049. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s049.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)