Seite:Schurz Lebenserinnerungen b1 s047.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Kind, das zufällig ohne Taufe gestorben, unrettbar im ewigen Höllenfeuer brennen müßte; – ja, daß ich selbst, wenn ich an der Verdammnis jener Unschuldigen einen noch so ehrlichen Zweifel hege, auch zu den Ewigverlorenen gehöre. Gegen diesen Satz lehnte sich nicht allein meine Vernunft, sondern es bäumte sich gegen ihn mein tiefinnerstes Gerechtigkeitsgefühl auf, wie mir denn auch stets von allen Schandtaten menschlicher Grausamkeit, denen wir in der Geschichte begegnen, die religiösen Verfolgungen die empörendsten gewesen sind. Diese Lehre schien mir dem Wesen der göttlichen Allgerechtigkeit so schreiend zu widersprechen, daß sie nur dazu diente, mir andere Glaubensartikel verdächtig zu machen.

Freilich versagen einige hohe Autoritäten in der Kirche dieser extremen und grausamen Lehre ihre Zustimmung und weisen den Seelen ungetaufter Kinder und denen tugendhafter Heiden einen Mittelzustand zwischen Himmel und Hölle an. Aber gewiß ist, daß die Religionslehrer meiner Jugend mich so lehrten, wie ich hier angegeben habe. Sie taten dies mit der rauhen und erbarmungslosen Logik, die das Dogma von der Erbsünde und die gepredigte Notwendigkeit der Kindertaufe zu erfordern schienen. Welch ein Segen würde es für die Kirche sein und für alle, die unter ihrem Einfluß stehen, wenn all ihre Lehrer in allgemeiner Übereinstimmung nicht nur ihren Gläubigen, sondern allen schuldlosen und tugendhaften, wenn auch ungetauften, Menschenseelen den Himmel öffneten mit all seiner Glückseligkeit!

Diese Gedanken beunruhigten mich furchtbar. Ich betete oft und inbrünstig um Erleuchtung, aber als Antwort auf mein Gebet kamen immer dieselben Zweifel wieder. Meinem Religionslehrer vertraute ich meinen Gemütszustand mit voller Offenheit. Wir hatten eine Reihe von Gesprächen, in denen er mir jedoch wenig zu sagen wußte, das ich nicht schon früher oft gehört hatte. Ich gestand meinem Lehrer freimütig, daß, während ich mich gern überzeugen ließe, er mich doch nicht überzeugt habe, worauf er auch mich von den kirchlichen Observanzen dispensierte, bis ich mich selbst würde gedrungen fühlen, dieselben wieder aufzunehmen. Er fuhr fort, mich mit Güte und Freundlichkeit zu behandeln, und ich könnte nicht sagen, daß die Geständnisse, die ich ihm gemacht, mir im Laufe meiner Schulzeit irgendwelche Schwierigkeiten verursacht hätten. Ich meinerseits studierte Kirchengeschichte und Schriften dogmatischen Inhalts mit gesteigertem Eifer und benutzte jede Gelegenheit, Prediger von Ruf zu hören; aber je länger und ernstlicher ich diese Studien fortsetzte, um so weniger konnte ich den Weg zu den meinem Gerechtigkeitsgefühl widerstrebenden Glaubenssätzen zurückfinden. Dabei blieb in mir ein starkes religiöses Bedürfnis tätig, eine tiefe Achtung vor dem religiösen Gedanken und ich habe nie einem leichtfertigen Spötter über religiöse Dinge ohne Widerwillen zuhören können.

Auf diesem Gebiete freilich konnten mir meine Freunde nicht viel Belehrendes erzählen; um so mehr aber auf einem andern.

Von der neuesten deutschen Literatur, besonders der politischen, wußte ich sehr wenig. Von Heine hatte mir mein Lehrer Pütz erzählt, aber ich kannte ihn eigentlich nur dem Namen nach; von Freiligrath

Empfohlene Zitierweise:
Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 047. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s047.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)