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alten Königs Priamus im Zelte des Achilles, als er den grausamen Sieger um die Leiche seines herrlichen Sohnes anfleht; – wie die Begegnung zwischen Odysseus und Nausikaa und der Abschied des göttlichen Dulders vom Hause des Königs der Phäaken, als Nausikaa traurig und verschämt, hinter einer Säule verborgen, dem scheidenden Fremdling nachblickt; – wie der furchtbare Kampf mit den Freiern und das Wiedersehen des Odysseus und der treuen Penelope; – wie die Szene, als der zurückgekehrte Held sich im Garten des stillen Landhauses dem alten, gramgebeugten Vater Laertes zu erkennen gibt. Den Grund, warum diese Szenen mich soviel tiefer bewegten, als die Beschreibungen der Kämpfe in der Iliade und die fabelhaften Abenteuer in der Odyssee, obgleich diese auch mich mächtig fesselten, habe ich erst später einsehen lernen: sie berühren das rein menschliche Gefühl, welches weder von Zeit noch von Ort abhängt – welches weder antik, noch modern, sondern universal und ewig ist.

Nachdem ich die Übersetzung des Homer gelesen, sehnte ich mich mit Begier danach, das Studium des Griechischen zu beginnen, und die Leichtigkeit, mit der ich mir später diese Sprache aneignete, war wohl in großem Maße dem Wunsche zu verdanken, das, was ich dem Inhalt nach als so schön empfunden, auch in der ganzen Herrlichkeit seiner ursprünglichen Form kennen zu lernen.

Mit den römischen Königen und den Helden der Republik war ich natürlich auch bald befreundet, und ich habe damals an mir selbst die Erfahrung gemacht, wie sehr ein mit lebhaftem Interesse geführtes Studium der Geschichte eines Landes das Studium der Sprache desselben erleichtert. Und dies gilt von den alten Sprachen ebensosehr wie von den neuen. Wenn der Schüler aufhört, in dem Schriftsteller, den er zu übersetzen hat, nur einen Haufen von Wörtern zu sehen, die betreffs ihrer Übereinstimmung mit grammatischen Regeln geprüft werden müssen; wenn das, was der Autor sagt, so sehr des Schülers Wißbegierde angeregt hat, daß dieser eifrig den wahren Sinn und Zusammenhang jedes Wortes erforscht und mit Lust von Zeile zu Zeile und von Seite zu Seite vorwärts eilt, um mehr zu erfahren, dann wird die Grammatik, die ihm ja nur in seinem Streben Hilfe bietet, aufhören, für ihn ein trockenes und abstoßendes Studium zu sein, und die Sprache wird ihm wie von selbst zufliegen. Dies wurde mir klar, als ich unter Bones Leitung den Cornelius Nepos und Cäsars gallischen Krieg las, und noch mehr später bei dem Übersetzen der ciceronischen Reden in den höhern Klassen. Die meisten derselben kommen dem Schüler zuerst ziemlich schwer vor. Fängt er aber jedesmal damit an, die Umstände zu studieren, unter denen die Rede gehalten wurde, den Zweck zu erforschen, der durch sie erreicht werden sollte – die Punkte festzustellen, auf die es besonders ankam – sich die Persönlichkeiten zu versinnlichen, die dabei beteiligt waren – so wird er sich unwillkürlich von der Begierde fortgerissen fühlen, genau zu erfahren, mit welchen Darstellungen und Argumenten, welchen Angriffen und Verteidigungen, welchen Anrufungen an die Vernunft oder an das Ehrgefühl, oder an die Leidenschaft der Redner seine Sache geführt hat – und das Lebensvolle der Lektüre läßt bald die sprachlichen Schwierigkeiten verschwinden.

Empfohlene Zitierweise:
Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 038. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s038.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)