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Ding mit den zappelnden Beinen die wahrhafte Hirschkuh. Dies blieb so, als ich im folgenden Winter die schöne Genovefa wieder sah. Ich wußte nun, wie die Sache auslaufen würde, und als ich den Grafen Siegfried von seiner Gemahlin Abschied nehmen sah, um ins heilige Land zu ziehen, konnte ich mich kaum enthalten, ihm zuzurufen, er möge doch ja nicht fortgehen, da sonst etwas ganz Entsetzliches passieren werde. Wie glücklich ist doch jener naive Zustand, in dem man so voll genießt, da sich die Einbildung so rückhaltlos der Illusion hingibt, ohne im geringsten durch eine kritische Neigung gestört zu werden.

Gerade diese meine Genußfähigkeit empfing schon früh einen bösen Stoß. Als ich, etwa neun Jahre alt, in Brühl zur Schule ging, hielt sich dort eine wandernde Truppe auf, die leichtere Schauspiele und Komödien aufführte. Ihr Hauptstück war Körners „Hedwig, die Banditenbraut“. Mein Oheim Ferdinand, der einmal in Brühl über Nacht bleiben mußte, führte mich hin. Es war das erstemal, daß ich wirkliche lebende Menschen auf der Bühne sah. Die Hauptrolle, die des Bösewichts Rudolph, wurde mit all den zähnefletschenden Fratzen gespielt, deren man sich auf einem solchen Landtheater versehen konnte; da ich das jedoch damals noch für bare Münze nahm, so blieb ein starker Eindruck nicht aus. Aber unwillkürlich fühlte ich mich zum Nachdenken angeregt über das, was vor meinen Augen vorging, und ich konnte nicht zu einer so befriedigenden Illusion kommen, wie früher im Puppentheater mit seiner schönen Genovefa. Diese zur Kritik neigende Stimmung empfing einen furchtbaren Anstoß, als ich die Banditenbraut, jetzt in Gesellschaft meines Vaters, zum zweiten Male sah. Im letzten Akt soll, dem Text nach, Hedwig den über eine Falltür gebückten Bösewicht Rudolph mit einem Flintenkolben niederschmettern. Auf der Bühne in Brühl war dies jedoch so geändert worden, daß Hedwig den Bösewicht nicht mit der Flinte erschlagen, sondern erschießen sollte. Als nun in der Vorstellung die Schauspielerin in der Rolle der Hedwig die Flinte abdrückt, versagt das Schloß mit einem leisen Klick. Rudolph bleibt über die Falltür gebückt stehen in der Hoffnung, möglichst bald getötet zu werden. Die Hedwig spannt den Hahn noch einmal und drückt ab, aber wieder umsonst. Die arme Schauspielerin steht ratlos da. Im Zuschauerraum die tiefste Stille der Erwartung. Nun kommt hinter den Kulissen ein Ruf hervor in dem lauten Flüsterton, der ein ganzes Haus füllt, und in unverkennbar reinstem Brühler Dialekt: „Hau en met dä Kollef op dä Kop! Hau en!“ (Hau ihn mit dem Kolben auf den Kopf! Hau ihn!) worauf Hedwig die Flinte gemächlich umdreht und Rudolph, der geduldig mehrere Minuten lang auf einen jähen Tod gewartet hatte, mit dem Kolben auf den Kopf schlägt. Rudolph stürzt hin, das Publikum bricht in ein wieherndes Gelächter aus und der erschlagenen Bösewicht, wie er auf der Bühne liegt, kann sich nicht enthalten, daran teilzunehmen.

Im Zuschauerraum wollte das Lachen nicht aufhören. Ich hätte lieber weinen mögen. Auf mich hatte dieser Vorfall eine wahrhaft verblüffende Wirkung. Mit der reinen Hingabe an die Illusion und so auch mit der reinen Lust an dramatischen Darstellungen war es nun

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 033. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s033.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)