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bewahrten, durch frühe Sättigung abgestumpft zu werden; die ein sympathisches Gefühl der Zusammengehörigkeit mit den Armen und Niedrigen im Volk lebendig und warm erhielten, ohne das Streben nach höheren Zielen zu entmutigen.

Unser Dorf war so klein, daß wenige Schritte uns in das Feld und den Wald führten, und daß man jeden Bewohner wie einen nahen Nachbarn kannte. Obgleich, immer seitdem ich lesen konnte, meine Bücher mir viel zu tun machten, so hatte ich doch meinen vollen Anteil an den Spielen der Bauern- und Handwerkerkinder des Dorfs, deren Gesichter und Namen mir jetzt noch klar gegenwärtig sind. Mein intimster Freund war der jüngste der drei Söhne unseres wohlhabendsten Kaufmanns im Dorfe, Joseph Winterschladen, ein Knabe von hübschem Äußern, liebenswürdiger Gemütsart und guten Fähigkeiten. Wir waren genau gleichen Alters, und da auch er „studieren“ sollte, so fühlten wir, als ob uns auch dasselbe Schicksal bestimmt sei und hingen sehr aneinander. Als ich im Jahre 1889 Liblar besuchte, sahen wir uns zum ersten mal seit unserer frühen Jugendzeit wieder. Er hatte die juristische Laufbahn verfolgt, war Landgerichtsrat geworden, hatte dem Vaterlande in den Kriegen von 1866 gegen Österreich und 1870 gegen Frankreich mit Ehren als Reserveoffizier gedient, zuletzt als Ulanen-Major, und sich als Lohn seiner Tapferkeit das eiserne Kreuz gewonnen. Nach dem Kriege fungierte er als Richter im Elsaß und zog sich dann nach seinem Heimatsdorfe Liblar zurück, wo er als wohlhabender alter Junggeselle ein stattliches und mit einer gewissen Eleganz eingerichtetes Haus bewohnte, genau auf der Stelle, auf der vor vielen Jahren der sonderbare Philosoph Krupps Duhres gehaust hatte. Dort begrüßte mich der liebe Freund meiner Kinderjahre, nun ein bejahrter und beleibter Herr, strahlend von freudiger Herzlichkeit. Rasch wurde für mich und meine Kinder und einige Verwandte, die mich begleiteten, ein Mahl improvisiert, und als dann der gute alte Freund seinen Arm um meinen Nacken legte und in seinem besten Wein auf mein und der Meinigen Wohl trank, da füllten sich seine Augen, und die meinigen nicht weniger.

Aber auch unter den andern Dorfkindern hatte ich gute Kameraden, mit denen ich mich lustig umhertrieb, Vogelnester aufsuchte, Fische und Bachkrebse fing, Räuber- und Soldatenspiele aufführte und all den Schabernack anstellte, an dem Knaben eben Gefallen finden. Mein Vater liebte Tiere und Blumen; so pflegte er in dem Garten am Hause neben Obst und Gemüse einige hübsch angelegte Beete mit seltenen Blumensorten, und in allen Räumen des Hauses hingen Käfige mit Singvögeln der verschiedensten Art, Finken und Meisen, Amseln und Wachteln, für die er uns Kinder zu interessieren suchte. Er bildete mich auch im Vogelfang aus, besonders im Schlingenstellen für den Fang der schmackhaften Krammetsvögel, die im Herbst ihrem Strich durch die Gegend nahmen. Diese Schlingen wurden zu Hunderten im Walde die einsamen Jagdwege entlang gestellt, und so ging ich denn während der Herbstferien wochenlang jeden Tag des Morgens kurz vor Sonnenaufgang und wieder in der Abenddämmerung in die Tiefe des Waldes, um die Vögel, die sich mittlerweile in den Schlingen gefangen, einzusammeln und die Schlingen in Ordnung zu stellen. Auf jenen

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 027. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s027.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)