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und im späteren Leben ist mir das Bild des dreieckigen Hutes mit der daran befestigten einäugigen Brille noch oft im Gedächtnis aufgestiegen, wenn ich von Philosophie oder Philosophen reden hörte.

Mein Freund Meister Jurges hatte zuweilen Anwandlungen, die auf mich einen tiefen Eindruck machten. Es geschah ihm wohl – nicht oft, aber doch dann und wann –, daß er in fröhlicher Gesellschaft etwas mehr trank, als er sollte. Aber seine Anheiterung – Rausch konnte man es kaum nennen – hatte nichts Tierisches, Abstoßendes an sich. Sie machte ihn nur munterer und vermehrte den Sprudel seiner originellen Einfälle. Eines Tages war ich bei einer solchen Gelegenheit gegenwärtig. Meister Jurges hielt mit seinen launigen Bemerkungen die Gesellschaft in der heitersten Stimmung. Da hörten wir eine Wanduhr schlagen. Meister Jurges unterbrach sich plötzlich mitten in einem Satze, sprang auf und rief in feierlich ernstem Ton: „Ah, schon wieder eine Stunde dem Tode näher.“ Aber in der nächsten Minute, nach kurzem Schweigen, setzte er sich wieder hin und führte das Gespräch weiter, eben so lustig wie vorher. Mein Vater, dem ich diesen Vorfall erzählte, sagte mir, daß er schon mehrmals ähnlichen Szenen beigewohnt habe. Meister Jurges habe eine Ahnung, er werde nicht alt werden; er mache sich allerlei Gedanken darüber, wie es wohl mit dem Leben nach dem Tode beschaffen sein möge, und was ihn so innerlich beschäftige, komme zuweilen auf diese sonderbare Weise zum Ausbruch.

Mich behelligte er mit diesen trüben Vorgefühlen nicht. Vor mir entwickelte er nur die heiteren Seiten seines Charakters und seiner Lebensphilosophie, obgleich er dieses pomphafte Wort nie gebrauchte. Er versuchte häufig, mir zu zeigen, wie wenig dazu gehörte, um glücklich zu sein, – und zum Beweis ließ er sein eigenes Beispiel dienen. Er war doch ein recht armer Mann nach den gewöhnlichen Begriffen der Welt. Das Schicksal hatte ihn nicht nur nicht begünstigt, sondern eher hart geschlagen. Er leugnete nicht, daß er in sich den Stoff zu etwas Besserem fühle als zum Schuster, aber nur dazu hätten seine Eltern ihn machen können. Dann habe die Augenkrankheit ihm gar die Tauglichkeit zum Schusterhandwerk geraubt, und er habe ein Botengänger werden müssen, um für die Seinigen das tägliche Brot zu erwerben. Aber was würde es helfen, wenn er sich nun mit finstern Grübeleien quälte über das, was er hätte werden sollen und nicht geworden sei? Die Welt sei auch dem armen Botengänger noch schön. Ihm sei das Glück geworden, mit Menschen umgehen zu dürfen, die mehr gelernt hätten und geschulter seien als er. Jeder neue Gedanke, den er aussprechen höre und verstehen könne, sei ihm ein großer Genuß. Er dürfe nur mehr an die Freuden denken, die ihm das Leben geschenkt, als an die Leiden, die es ihm gebracht habe, um sich glücklich zu fühlen. Man brauche in der Tat nicht mehr zum irdischen Glück als ein gutes Gewissen und Genügsamkeit. Wenn ich im späteren Leben einmal von Armut gedrückt oder von unverdienten Schicksalsschlägen getroffen werden sollte, so möge ich nur an meinem Freund, den Botengänger Jurges, denken. – Solche Lehren gab er mir bei jeder Gelegenheit, aber stets mit allerlei Scherzen und drolligen Beschreibungen vermischt,

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 020. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s020.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)