Seite:Schurz Lebenserinnerungen b1 s016.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

mußten. Die Tatsache, daß Ohm Ferdinand Sonntags nicht zur Kirche ging, schien in dieser Beziehung die schlimmsten Gerüchte zu bestätigen. Seine Gattin, eine Frau von vortrefflichem Charakter und tüchtige Wirtschafterin, hatte die eigentümliche Liebhaberei, sich über den Personalbestand und die Schicksale der europäischen Fürstengeschlechter aufs genaueste unterrichtet zu halten, und wir hörten sie oft mit erstaunlicher Klarheit die verwickeltsten Familienbeziehungen auseinandersetzen und merkwürdige Geschichten über die „hohen Herrschaften“ erzählen.

Der dritte Bruder war Ohm Jacob, der als junger Mann nach der kleinen Festungsstadt Jülich, sieben Wegstunden von Liblar, gezogen war, dort eine Kaufmannstochter geheiratet und sich dem kaufmännischen Beruf gewidmet hatte. Er war ungewöhnlich schön von Angesicht und Gestalt und dazu eine feine, liebenswürdige und im besten Sinne vornehme Natur. Seine vortrefflichen Eigenschaften und sein einnehmendes Wesen gewannen ihm bald die Achtung und Zuneigung der Gemeinde, und er wurde zum Bürgermeister der Stadt ernannt, ein Amt, das er viele Jahre mit tadellosem Anstand und zu allgemeiner Zufriedenheit versah. Jedes Jahr reiste er zur Messe nach Frankfurt, von wo er uns, stets über Liblar zurückkehrend, allerlei hübsche Sachen mitbrachte und interessante Erzählungen über die merkwürdigen Menschen und Dinge, die er dort gesehen und gehört.

Der vierte und jüngste Bruder war Ohm Georg, der, wie schon erwähnt, bei den Kürassieren in Berlin gedient hatte und dann meinen Großvater in der Ackerwirtschaft vertrat. Er hatte als Soldat drei Jahre in der Hauptstadt gelebt und somit auch weit über den Schatten des heimatlichen Kirchturms hinausgeblickt. Er war ebenfalls ein hübscher Mann und hatte den ritterlichen Zug der Familie. Jeder der vier Brüder war über sechs Fuß groß und zusammen bildeten sie eine Gruppe von seltener Stattlichkeit. Auch durch ihre Intelligenz und die Weite ihrer Lebensanschauungen zeichneten sie sich aus vor den gewöhnlichen Landleuten ihrer Umgebung. Ihnen schlossen sich als Geistesverwandte zwei Schwäger an, mein Vater und „Ohm Rey“, der Mann einer Schwester meiner Mutter, ein geistig sehr geweckter und dabei lebenslustiger Mann, der in dem Bauerndorfe Herrig, eine gute Stunde Wegs von Liblar, ein ansehnliches Ackergut als Eigentum besaß. Dieser Kreis fand sich häufig, ganz oder teilweise, in heiterer Geselligkeit zusammen. Aber die gesellige Unterhaltung beschränkte sich nicht auf die landesüblichen Vergnügungen, obgleich es daran nicht fehlte, noch auch auf die Verhandlung alltäglicher Geschäfte. Diese Männer lasen ihre Zeitungen, interessierten sich für das, was in der Welt vorging, und besprachen unter sich, wenn auch nicht mit besonderer Sachkenntnis, aber doch mit eifriger Teilnahme, die Ereignisse, die nah und fern die Menschheit bewegten. Solchen Gesprächen wohnte ich nicht selten, an meines Vaters Stuhl gelehnt, oder unbemerkt in einem Winkel kauernd, als stummer aber begieriger Zuhörer bei. Manche der davon empfangenen Eindrücke sind mir im Gedächtnis geblieben. Da hörte ich denn von den Kämpfen des Abdel-Kader in Algier und des Helden Schamyl im Kaukasus, von den wiederholten

Empfohlene Zitierweise:
Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 016. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s016.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)