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ihres reinen Gemüts überdauerte alle Schläge des Schicksals. Als sie in hohem Alter starb, hatte sie im letzten Augenblicke ihres Bewußtseins noch ein fröhliches Lächeln für ihre Kinder und Enkel, die sie umstanden. Sie war von schlanker, wohlgebauter, mittelgroßer Gestalt, und ihre Gesichtszüge erinnerten ein wenig an die des Großvaters. Wir Kinder bewunderten immer ihr weiches, welliges, goldbraunes Haar. Ob sie in ihrer Blütezeit hätte für schön gelten können, weiß ich nicht; aber wir sahen in ihrem Angesicht den Inbegriff von Liebe, Güte und Anmut. Die Umgangsformen der „gebildeten Welt“ kannte sie nicht; aber sie besaß jene edle Natürlichkeit, die den Mangel an Bildung vergessen läßt. Ihre Handschrift war ungeschickt und ihre Orthographie keineswegs tadellos. Von Literatur wußte sie nicht viel, und mit Grammatik und Stilübungen hatte man sie wenig behelligt. Aber manche der Briefe, die sie mir zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Lebenslagen schrieb, waren nicht nur voll von edlen Gedanken und Empfindungen, sondern auch von seltsam schwunghafter Schönheit im Ausdruck. Die unbewußte Größe ihrer Seele hatte da ihre ureigene Sprache gefunden. Der Einfluß ihres Wesens konnte nicht anders als beständig erhebend und fördernd wirken, wenn sie mir auch in der Erwerbung von Kenntnissen und der daraus entspringenden geistigen Fortentwicklung nur wenig zu helfen vermochte.

Um so eifriger ließ sich mein Vater dies angelegen sein. An den weiß getünchten Wänden unserer kleinen, äußerst bescheiden möblierten Wohnstube, die auch als Speisezimmer diente, hingen, in hübsche Rahmen gefaßt, die Bildnisse von Schiller, Goethe, Wieland, Körner, Tasso und Shakespeare; denn die Dichter, und neben ihnen Geschichtsschreiber und Männer der Wissenschaft, waren meines Vaters Helden, von deren Schöpfungen und Verdiensten er mir früh mit Vorliebe erzählte. Wenn auch die Schule seines Geburtsdorfes und später das Lehrerseminar ihn nicht viel gelehrt hatten, so war doch sein Lerntrieb angespornt worden, und er hatte manches mit Eifer und mehr oder weniger Nutzen gelesen. In der Tat, er las so ziemlich alles, was ihm in die Hände fiel, und so gab er auch mir zum Lesen außerhalb des Schulunterrichts jede mögliche Gelegenheit und Ermutigung. Er selbst hatte sich einige Bücher gesammelt, unter denen sich die Beckersche Weltgeschichte, wohlfeile Ausgaben einiger deutscher Klassiker und Übersetzungen ausgewählter Werke von Voltaire und Rousseau befanden. Aber dieser Lehrstoff lag noch jenseits meines kindlichen Begriffsvermögens, und so mußte denn eine Leihbibliothek aushelfen, die von einem Buchbinder in Brühl geführt wurde. Von dort bezogen wir zuerst eine Reihe sogenannter „Volksbücher“, die ziemlich gut erzählte alte Sagen enthielten, vom Kaiser Oktavianus, von den vier Heimonskindern, vom hörnernen Siegfried, vom starken Roland und einige der beliebten Jugendschriften des „Verfassers der Ostereier“, von dessen für Kinder geschriebenen Rittergeschichten ich noch einige dem Inhalt nach hersagen könnte. Aber dann ging mir eine neue Welt auf. Der alte Gärtner des Grafen, der „Herr Gärtner“, wie wir ihn nannten, der meine Leselust bemerkt hatte, sagte mir eines Tages, daß er ein Buch habe, das mir wohl gefallen würde, und er wolle es mir schenken. Es war

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 014. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s014.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)