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und so wurde denn, als ich eben sechs Jahre alt war, ein altes kleines Klavier angeschafft, das keine Pedale und keine Dämpfung hatte und auch sonst noch mit vielfachen Mängeln behaftet war, aber doch noch genügte, um mir zu den anfänglichen Fingerübungen zu dienen. Mir kam das Instrument sehr schön vor, und ich sah es mit einer gewissen Ehrfurcht an. Nun galt es, einen Musiklehrer zu finden. Zuerst wurde der Organist, der den Kirchendienst besorgte, ins Auge gefaßt. Aber der war ein „Naturmusiker“ – nicht ohne Ohr für Harmonie, aber kaum imstande, die einfachste Komposition in Noten zu entziffern. Die Dorfleute hatten sich an seine Leistungen in der Messe und der Vesper gewöhnt; und wenn auch in seinen Präludien und Interludien zuweilen eigentümliche Verwicklungen eintraten, so störte das weiter nicht. Nun dachte unser Familienrat, der die Musiklehrerfrage beriet, den Organisten, der noch in einem entfernten Grade zu unserer Vetternschaft gehörte, in dieser Sache ehrenhalber nicht ganz übergehen zu können. Aber er war vernünftig genug, mit völliger Wahrung seiner eigenen Würde zu sagen, daß er das, was er von Musik verstehe, anderen nicht beibringen könne, was ihm auch bereitwillig geglaubt wurde. So wurde denn beschlossen, daß ich wöchentlich zweimal nach der etwa anderthalb Stunden Wegs entfernten kleinen Stadt Brühl gehen müsse, wo es einen musikalisch recht gut geschulten Organisten Namens Simons gab. Der Weg führte durch einen großen Wald, „die Ville“ genannt; aber er war eine wohlgepflegte, breite Chaussee, auf der eine Postkutsche ging, und wenn es sich günstig traf, so erleichterte mir der Postillon zuweilen meine musikalische Wanderung, indem er mich bei sich auf dem Bock sitzen ließ.

Nach einiger Zeit wurde mir mein jüngerer Bruder Heribert als musikalischer Mitschüler beigegeben, und damit trat auch eine Erweiterung meiner Studien ein. Während nämlich mein Bruder bei dem vortrefflichen Herrn Simons seine Klavierstunde hatte, benützte ich die freie Zeit, um bei dem Pfarrkaplan in Brühl, einem gestreng aussehenden „geistlichen Herrn“, die Anfangsgründe des Lateinischen zu lernen. So wanderten wir denn zweimal die Woche zusammen nach Brühl und zurück. Unterwegs vergnügten wir uns damit, zweistimmige Lieder zu singen, und da wir beide mit richtigem Gehör begabt waren und es uns an Stimme nicht fehlte, so mag es ziemlich gut geklungen haben. Wenigstens erregten wir die Aufmerksamkeit der Leute, die des Weges kamen. Es geschah uns sogar einmal, daß eine Reisegesellschaft, um uns zuzuhören, ihren Wagen halten ließ, ausstieg, uns zum Niedersitzen unter den Bäumen einlud und uns dann mit allerlei guten Dingen aus ihrem Proviantkorb zu bestimmen suchte, unser ganzes Repertoir herzusingen.

Mein Bruder Heribert, fünfzehn Monate jünger als ich, war ein reizender Junge; blauäugig und blond, heiteren Temperaments und von der liebenswürdigsten Gemütsart. Das Stillsitzen und aus Büchern lernen gefiel ihm weniger, als sich mit Blumen und Tieren zu beschäftigen. Mein Vater dachte daher, während ich ein Gelehrter werden sollte, aus ihm einen Kunstgärtner zu machen. Wir Brüder hingen sehr aneinander, und meine Mutter hat mir im späteren Leben oft erzählt,

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 012. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s012.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)