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von 1814, der mit der Einnahme von Paris und Napoleons Verbannung nach der Insel Elba endigte. Es folgte eine kurze Periode scheinbaren Friedens. Aber als Napoleon im Jahre 1815 plötzlich von Elba zurückkehrte und sich der Regierung Frankreichs wieder bemächtigte, hoben die Preußen auf dem linken Rheinufer frische Truppen aus. Alle waffenfähigen jungen Leute mußten mit, und so trat mein Vater, damals 18 Jahre alt, in ein Infanterieregiment ein, mit welchem er sofort nach dem Kriegsschauplatz in Belgien abmarschierte. Auf dem Wege wurden die Rekruten in den Handgriffen und den einfachsten und notwendigsten Evolutionen geübt, um sie sofort möglichst gefechtsfähig zu machen. Meines Vaters Regiment passierte über das Feld von Waterloo ein paar Tage nach der Schlacht und wurde dann bei der Belagerung einer kleinen französischen Festung verwandt, die sich bald ohne Blutvergießen ergab. Später wurde er zur Artillerie versetzt und stieg zur Würde eines Bombardiers empor, was seinem jugendlichen Ehrgeiz nicht wenig schmeichelte. Er hat jedoch immer bedauert, daß er niemals in einem Gefechte gewesen, und daß er, wenn andere von ihren Taten und Gefahren erzählten, den durchaus unblutigen Charakter seiner Kriegsdienste zugestehen mußte.

Nachdem er aus dem aktiven Dienst entlassen worden, ging er als Schüler in das Schullehrerseminar zu Brühl und anfangs der zwanziger Jahre wurde er in Liblar angestellt. Im Seminar hatte er etwas Musikunterricht erhalten und die Flöte spielen lernen. So war er befähigt, seine Schulkinder einfache Lieder singen zu lehren und gar einen kleinen Gesangverein zu gründen, an welchem die jungen Männer und die erwachsenen Mädchen des Dorfes und der unmittelbaren Umgegend teilnahmen. In diesem Gesangverein machte er die Bekanntschaft von Marianne Jüssen, die er im Jahre 1827 heiratete. Sie war die Tochter eines Pächters, Heribert Jüssen, der einen Teil einer dicht bei Liblar gelegenen Burg, „die Gracht“ genannt, bewohnte. Mehrere Jahre nach ihrer Verheiratung lebten mein Vater und meine Mutter bei meinen Großeltern; und so ereignete es sich, daß ich als ihr erstgeborener Sohn am 2. März 1829 in einer Burg das Licht der Welt erblickte.

Die Burg war der Stammsitz des Grafen von Wolf-Metternich. Aber sie war nicht sehr alt – wenn ich mich recht erinnere, zwischen 1650 und 1700 erbaut –, ein großer Komplex von Gebäuden unter einem Dach, an drei Seiten einen geräumigen Hof umgebend; hohe Türme mit spitzen Dachkappen und großen eisernen Wetterfahnen an den Ecken; ein ausgemauerter, breiter, stets gefüllter Wassergraben rings umher; darüber eine Zugbrücke in einen engen gewölbten Torweg führend; in der Mauer über dem schweren, mit breitköpfigen Nägeln beschlagenen Tor das Wappenschild der gräflichen Familie mit einer Inschrift, die ich entzifferte, sobald ich lesen konnte, und die mir durch all die wechselnden Schicksale meines Lebens ziemlich wörtlich im Gedächtnis geblieben ist:

„Vorhin war ich in Hessenland
Von Guttenberg ein Wolf genannt.
Jetzt bin ich durch Gottes Macht
Graf Wolf Metternich zur Gracht.“

Empfohlene Zitierweise:
Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 002. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s002.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)