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Max Schneidewin: Ernst von Leutsch: Ein Nekrolog

sammlung der schriften einer wissenschaft, die in Deutschland in privatem besitz sein mögen.

Leutsch wollte in erster linie akademischer lehrer sein, und ein unermüdlicher fleiss eines langen lebens wurde dieser seiner lebensaufgabe gewidmet. Der umfang seiner vorlesungen war bedeutend. Von den realen seiten der classischen alterthumswissenschaft waren es griechische und lateinische litteraturgeschichte (oder auch einzelne theile derselben, wie die geschichte der prosa oder der poesie) und metrik, worauf sich seine vorlesungen bezogen. Von schriftstellern waren diejenigen, zu denen er am meisten zurückkehrte, Pindar, Aristophanes und Thukydides, Livius und Tacitus (historien); er hat aber auch wohl gelesen über die elegiker, Sophokles, Euripides, Theophrast; über Cicero, Horaz, Catull, Properz und Sallust. Seine hefte zu allen diesen collegien waren mit dem grössten fleiss ausgearbeitet und immer wieder überarbeitet; sein vortrag war nicht glänzend, aber erleichterte sehr ein beliebig vollständiges nachschreiben, trotzdem Leutsch keineswegs, wie manche docenten, in einschläferndem tone sprach und trotzdem er in den einzelnen stunden reichlichen stoff verarbeitete; seine vorlesungen pflegten irgendwie zu beginnen und zu endigen mit dem preis des wissenschaftlichen lebens, insbesondere des philologischen studiums und der deutschen universitäten. Dass in Leutsch’s collegien eine unermessliche fülle der erudition steckte, insbesondere auch eine allmälich seltener werdende beherrschung der grossen leistungen des 17. und 18. jahrhunderts, wurde ganz allgemein anerkannt. Seine strenge und gewissenhafte methodik dagegen wurde von manchen verkannt, und eine gewisse strömung gegen Leutsch war unter den philologischen studenten Göttingens meist vertreten. Trotzdem war sein docieren von methodik ganz unzweifelhaft getragen und durchdrungen. Stets, von abschnitt zu abschnitt, waren die ziele genau vorgezeichnet, auf welche sich die untersuchung zubewegte; aber die erreichung des zieles war wieder durch eine reihe von unterzielen bedingt, welche nun die kleineren strecken des weges beherrschten. Indem Leutsch nun alle diese kleinen theilstrecken mit gleicher akribie verfolgte, oft nach sachlich gebotenen ausweichungen auf seitenlinien wieder in die hauptstrasse einlenkte, um eine nächste etappe derselben doch wieder erst in einer neuen seitencurve zu erreichen, konnte es scheinen, als ob die rechts und links am wege gepflückten blumen gelehrten wissens es wären, deren reizen er nicht widerstehen könnte und die ihn wie eine Proserpina abseits lockten, um vom Plutonischen wust logisch unerhellter stofffülle verschlungen zu werden. Und doch tauschten diejenigen seiner zuhörer, die wir ihm besonders zugethan waren, oft unter uns aus, wie einem entgegenstehenden vorurtheil zuwider für uns das logische gerüst auf das wohlthuendste unter dem üppigen gerank der gelehrsamkeit als

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Max Schneidewin: Ernst von Leutsch: Ein Nekrolog. Göttingen: Dieterich'sche Verlagshandlung, 1888, Seite 6. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schneidewin_Leutsch_06.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)