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Die Horen - eine Monatsschrift, 1. Band

Unser Interesse für Wahrheit soll rein seyn; die Wahrheit, blos weil sie Wahrheit ist, soll der letzte Endzweck alles unsers Lernens, Denkens und Forschens seyn.

Die Wahrheit an sich aber ist blos formal. Uebereinstimmung und Zusammenhang in allem, was wir annehmen, ist Wahrheit, so wie Widerspruch in unserm Denken Irrthum und Lüge ist. Alles im Menschen, mithin auch seine Wahrheit steht unter diesem höchsten Gesetze: sey stets einig mit dir selbst! Heißt jenes Gesetz in der Anwendung auf unsre Handlungen überhaupt: Handle so, daß die Art deines Handelns, deinem besten Wissen nach, ewiges Gesetz für alles dein Handeln seyn könne; so heißt dasselbe, wenn es insbesondere auf unser Urtheilen angewendet wird: urtheile so, daß du die Art deines jetzigen Urtheilens als ewiges Gesetz für dein gesammtes Urtheilen denken könnest. Wie du vernünftiger Weise in allen Fällen kannst urtheilen wollen, so urtheile in diesem bestimmten Falle. Mache nie eine Ausnahme in deiner Folgerungsart. Alle Ausnahmen sind sicherlich Sophistereien. – Darin unterscheidet sich der Wahrheitsfreund vom Sophisten: Beider Behauptungen an sich betrachtet kann vielleicht der erstere irren, und der letztere recht haben; und demnach ist der erstere ein Wahrheitsfreund, auch wenn er irrt, und der letztere ein Sophist, auch da, wo er die Wahrheit sagt, weil sie etwa zu seinem Zwecke dient. Aber in den Aeusserungen des Wahrheitsfreundes ist nichts widersprechendes, er geht seinen geraden Gang fort, ohne sich weder rechts noch links zu wenden; der Sophist ändert stets seinen Weg, und beschreibt seine krumme Schlangenlinie, so wie der Punct sich verrückt, bei welchem er gern ankommen möchte. Der

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: Die Horen - eine Monatsschrift, 1. Band. Cotta, Tübingen 1795, Seite 1-82. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schiller_Die_Horen_1-1795.pdf/98&oldid=- (Version vom 1.8.2018)