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DIE GRIECHIN.
(Der Geisterseher.)


Bekanntlich war der „Geisterseher“ auf zwei Theile berechnet, von denen wir blos den ersten erhalten haben, während der zweite allem Anschein nach uns die genauere Kenntniss der schönen Unbekannten verschaffen sollte, die in einer Art Episode gegen das Ende erst auftritt, deren fragmentarisch gezeichnete Gestalt gerade angethan ist, unsere Neugier zu spannen, ohne dass die Heldin derselben die Handlung wesentlich förderte oder auch nur einen bedeutenden Einfluss auf das Thun des Prinzen auszuüben vermöchte, der auf dem besten Wege ist katholisch zu werden auch ohne sie und ihre Bitten, die die Sache kaum sehr beschleunigen können.

Der Prinz trifft die vermeintliche Griechin zum ersten male in der Kirche und beschreibt ihre Erscheinung so lebhaft, dass sich wol auch der Maler dieser Scene zuwenden musste und sie uns also „halb kniend, halb liegend, an dem Altar hingegossen“ zeigt, in schwarzen Moiré gekleidet, „der sich spannend um den reizenden Leib, die niedlichsten Arme schloss und in weiten Falten wie eine spanische Robe um sie breitete; ihr langes lichtblondes Haar, in zwei breite Flechten geschlungen, die durch ihre Schwere losgegangen und unter dem Schleier hervorgedrungen waren, floss in reizender Unordnung über den Rücken hinab; eine Hand lag am Crucifix, und sanft hinsinkend ruhte sie auf der andern“. Die Beschreibung passt offenbar sehr viel mehr auf eine Deutsche als auf eine Griechin, und so findet es sich denn auch schliesslich, dass es eine germanische Schönheit war, die unter des welschen Himmels glühender Sonne beim Prinzen mehr wirkte, als die brennenden Augen aller schönen Venetianerinnen vermochten.

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Friedrich Pecht: Schiller-Galerie. F. A. Brockhaus, Leipzig 1859, Seite 393. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schiller-Galerie.pdf/418&oldid=- (Version vom 1.8.2018)