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DER PRINZ.
(Der Geisterseher.)


Dass, wenn man dem Versucher auch nur den kleinen Finger gibt, er bald den ganzen Menschen nimmt, ist eigentlich das Thema des „Geisterseher“, jener berühmten Novelle Schiller’s, die uns die Geschichte des Katholischwerdens eines protestantischen deutschen Prinzen erzählt, und uns in dessen Charakter und Schicksal ein Meisterstück von feiner psychologischer Entwickelung darstellt.

An einem norddeutschen Hofe, als der dritte Prinz am Throne erzogen, hat er geringe Aussicht, denselben zu erreichen. Seiner Erziehung war wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden, er erhielt keine höhere, zusammenhängende Bildung, sie bestand vielmehr nur aus der Kenntniss der äussern Formen, den nothwendigen Sprachen und endlich aus den Früchten einer vollkommen ungeordneten Lectüre, wie bei so vielen seiner Standesgenossen. Diese Lectüre, zumeist aus Langeweile angefangen, blos auf deren Vertreibung berechnet, hat seine Phantasie ungebührlich genährt, verbunden mit der mislichen Lage, in der ein nachgeborener Prinz immer ist, hat sie ihn verschlossen, träumerisch, in sich gekehrt gemacht. Er nahm als das Anständigste früh Kriegsdienste und machte Feldzüge mit; der Dienst gab wenigstens seinem Charakter äussere Würde und Haltung, während seine Erfahrungen sein in sich gekehrtes Wesen noch verstärkten. Die erste Jugend ist ihm darüber vergangen, ohne dass seine in das Lager und eine Art von Traumleben getheilte Existenz, seine angeborene und anerzogene Schüchternheit ihn bisjetzt den Verkehr der Frauen haben kennen lernen lassen, sodass er mit fünfunddreissig Jahren und trotz einer schönen Persönlichkeit in diesem Gebiete noch ein vollkommener Neuling ist. Rechnet man zu diesen Antecedentien noch die

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Friedrich Pecht: Schiller-Galerie. F. A. Brockhaus, Leipzig 1859, Seite 385. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schiller-Galerie.pdf/410&oldid=- (Version vom 1.8.2018)