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philosophischem Kopf ist es ihm Bedürfniss, aus allem Thatsächlichen den Gedanken zu erforschen und gerade dem Wunderbarsten und Fremdartigsten seinen geheimen Sinn abzulauschen, dem flüchtigen Spiel einer üppigen Phantasie nachzuspüren, aus welcher Ahnung oder Empfindung es hervorgequollen, und diese seine Seele erst ans volle Licht zu ziehen, sie im Sonnenschein seines Geistes wachsen zu lassen. So ist er wenigstens mit der Kinderseele des Gozzi’schen Märchens verfahren, er hat sie erst recht verstanden, zur Reife und vollen Bedeutung, deren sie fähig war, entwickelt.

Sein tieferes Verständniss zeigt uns der Dichter schon gleich durch die Art, wie er die beiden Hauptpersonen, Turandot und Kalaf, sich gegenüberstellt und ihr Verhalten bis ins einzelnste motivirt, besonders dem letztern alle die Bedingungen verleiht, die ihm allein das Herz eines stolzen und hochsinnigen Weibes vollkommen fesseln können.

Kalaf hat die Schule des Lebens im unermesslichsten Grade genossen, ihre härtesten Prüfungen siegreich bestanden mit ungebrochener, starker Seele. Vom Gipfel des Glücks ins äusserste Elend gestürzt trotz des mannhaftesten Kampfes, hat selbst die tiefste Niedrigkeit nicht vermocht sein Herz zu beugen, seine hochsinnige königliche Denkungsart zu verändern. Er hat immer dem Unglück mit Muth, der Erniedrigung mit Stolz begegnet und sie keine Macht über sich gewinnen lassen; sie konnten ihn stürzen, nicht aber beflecken, er ist in ihrer bittern Schule nur erfahrener und entschlossener geworden. So allein kann er einer Frau von Turandot’s Art gefährlich werden, die keinen verliebten Knaben brauchen kann, sondern einen gereiften Mann haben muss, der die Lösung hat für alle Fragen, die sich ihrem Geiste aufdrängen.

Mit grosser Weisheit hat ihm aber der Dichter noch eine andere Bedingung verliehen, die ihn einem Naturell theuer machen muss, das, nicht ohne eine starke Beimischung von Gefallsucht, als den höchsten Triumph gerade die Eroberung dessen empfinden wird, der bisher jeder Versuchung unzugänglich geblieben. Er hat noch nie geliebt, er hat bisjetzt das Geschlecht verachtet, er verabscheut

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Friedrich Pecht: Schiller-Galerie. F. A. Brockhaus, Leipzig 1859, Seite 370. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schiller-Galerie.pdf/395&oldid=- (Version vom 1.8.2018)