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Was könnt ihr schaffen ohne ihn? – Solang’
Der Tell noch frei war, ja, da war noch Hoffnung,
Da hatte noch die Unschuld einen Freund,
Da hatte einen Helfer der Verfolgte,
Euch alle rettete der Tell – ihr alle
Zusammen könnt nicht seine Fesseln lösen!

Aber lange, todesbange Tage müssen noch vergehen, bis die Ketten gesprengt sind; hat sie erst die Nachricht von seiner That mit schaudernder Furcht erfüllt, die sich erst in Hoffen und Freude allmählich auflösen konnte, als sie sah, wie die That des Tell das Signal zur Befreiung des ganzen Landes geworden, wie der, den sie als flüchtigen Mörder anfangs verfolgt glauben musste, jetzt als Erretter des Vaterlandes zu ihr zurückkehren soll, welchen Kreislauf erschütterndster Empfindungen hatte da die Arme zu durchlaufen! Wie hinreissend wird uns dieses Wiedersehen geschildert, wenn die von Schmerz und Freude gleich gehobene Frau den Kindern den Vater erst ankündigt:

Heut’ kommt der Vater. Kinder, liebe Kinder!
Er lebt, ist frei, und wir sind frei und alles!
Und euer Vater ist’s, der’s Land gerettet.

dann gegen Walti, der sein Theil des Ruhms in Anspruch nimmt, in die Worte ausbricht:

 Ja, du bist mir wieder
Gegeben! Zweimal hab ich dich geboren!
Zweimal litt ich den Mutterschmerz um dich!
Es ist vorbei – ich hab euch beide, beide!
Und heute kommt der liebe Vater wieder!

dann ihr aber, da sie den geliebten Mann kommen hört, die Stimme versagt, die Knie wanken und sie sich zitternd an der Thür festhalten muss, vor Entzücken ihm nur weinend in die Arme sinken kann!

Wer sollte hier, bei der Darstellung dieses schönen echt menschlichen Verhältnisses nicht ahnen, um wieviel enger und beseligender das Band ist, das glückliche Gatten umschlingt, als das, welches blos Liebende verbindet?



Empfohlene Zitierweise:
Friedrich Pecht: Schiller-Galerie. F. A. Brockhaus, Leipzig 1859, Seite 324. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schiller-Galerie.pdf/349&oldid=- (Version vom 1.8.2018)