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DON CESAR.
(Die Braut von Messina.)


Zweck jedes Kunstwerks ist: uns zu erheben und zu befreien, der der Tragödie insbesondere: uns zu rühren und zu erschüttern; wenn die „Braut von Messina“ nun unstreitig den erstern glänzend erreicht, so muss man sich doch gestehen, dass sie dem zweiten doch nicht so vollständig als die übrigen Stücke des grossen Dichters Genüge leistet. Dass dies nicht geschieht, ist hauptsächlich jener in Bezug auf unser Drama schon erwähnten falschen Theorie zuzuschreiben, mit welcher der Dichter uns die Personen derselben soviel als möglich von allen individuellen, lokalen und uns verwandten Beziehungen losgelöst, sie in eine ideale Welt gestellt hat. Wenn das Los der Maria Stuart, der Thekla oder Luise Miller uns tiefer ergreift, ihre Gestalten unserm Herzen theuerer werden, so geht das eben aus der Menge individueller Züge hervor, mit denen sie der Dichter ausgestattet, und die er der Isabella wie der Beatrice versagt hat; aus der Bekanntschaft mit ihrer Zeit, deren Sitten, ja ihrer Umgebung sogar.

Man liebt überhaupt ganz und gar nicht das in seiner Art Fertige und Vollkommene, das heisst das Ideale – sondern das Unfertige, Unvollkommene oder Individuelle. Das Vollkommene entfernt uns, nur das Individuelle ist uns nahe und deshalb verwandt und verständlich.

Es hat diese Erscheinung noch einen weitern Grund. Wie man nur theilnimmt an dem, was man versteht, und die schönsten Verse in einer fremden Sprache uns nicht ergreifen können – so liebt man auch nur, was lebendig ist. In eine gemalte Frau hat sich noch niemand verliebt, trotz der entgegenstehenden Behauptungen aller Romane! Lebendig ist aber nur das Individuelle, die geheime Ahnung ihrer Lebensunfähigkeit lässt uns daher für rein ideale Figuren nie jene

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Friedrich Pecht: Schiller-Galerie. F. A. Brockhaus, Leipzig 1859, Seite 297. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schiller-Galerie.pdf/322&oldid=- (Version vom 1.8.2018)