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Arnold Schering: Beiträge zur Bachkritik

liefert Schreyers Abhandlung. Abgesehen davon, daß sie mehr den Eindruck von zusammengeschweißten Taschenbuchnotizen als den einer in allen Teilen wohlfundierten wissenschaftlichen Abhandlung macht, enthält sie eine ziemliche Anzahl von unvorsichtigen, mangelhaft belegten, ja falschen Behauptungen. Referent stimmt – um es gleich herauszusagen – mit einem großen Teil der Schlußresultate Schreyers überein, ohne überall die Art zu billigen, mit der sie gewonnen sind. Die Methode ist zuweilen überspannt und fordert in ihren Ergebnissen zum Mißtrauen heraus. Einer der krassesten Fälle ist folgender. Da hat Bach ein gewisses Klavierkonzert in dmoll geschrieben, eine Komposition, vor der sich nun bald vier Generationen bewundernd gebeugt haben. Schreyer stößt es aus Bachs Lebenswerk aus. Grund: er hat auf S. 4 und 7 (Bd. 17 der B.-A.) einige „offene Oktaven“ gefunden[1]. Damit ist nicht nur der erste, sondern auch der zweite und dritte Satz, die beide gar nicht berücksichtigt werden, abgetan, als handle es sich um den Schmarren eines Winkelkomponisten. Zweiter „Grund“: es sei auffällig, daß Bach dieses Konzert, das „sich weder durch Reichtum und Originalität der Gedanken, noch durch ihre Verarbeitung auszeichnet“, viermal bearbeitet haben sollte. Auffällig wäre das nur, wenn man Schreyers absprechendes Urteil über den Wert des Stückes teilt; tut man es nicht – und das hängt vom Einzelnen ab und von seiner Art, Bach zu betrachten –, so entfällt dieser Grund. Einsichtsvoller, weil auf konkrete Dinge, nämlich auf den Nachweis harmonischer Absurditäten gestützt, ist seine Ablehnung der Kantate „Wir müssen durch viel Trübsal“, deren erster Chor in den Mittelsatz des Konzerts eingearbeitet ist. Diese Musik mutet freilich nicht Bachisch an, und zwar, weil sie fehlerhaft und unschön, also in einer Fassung gegeben ist, die sich einem Für oder Wider entzieht und auch mit der bekannten Bachschen Kühnheit in harmonischen Dingen nicht kurzerhand erklärt werden kann. Aber Schreyer ist voreilig, wenn er die Mängel


  1. Er hätte übrigens noch viel auffälligere Quinten anführen können.
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Arnold Schering: Beiträge zur Bachkritik. Breitkopf & Härtel, Leipzig [u. a.] 1912, Seite 127. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schering_Bachkritik_1912.pdf/4&oldid=- (Version vom 2.10.2022)