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5.

Ich seh Dich vor mir, wie im roten Fräckchen Stammgeschlechter.
In unsrer Jugend ich zuerst Dich sah,
Velazguez-Prinzchen Du mit blassen Bäckchen,
Das war beim Feste der Allotria.
Seither in meinem Herzen gabs ein Eckchen,
Da wohnten Tomi, Katja und Carla,
Und hab, so oft ich kehrt zum Isarstrand,
Geküßt Frau Hedwigs einst mir gütge Hand...

Vom Anti- auch, vom Antilärmvereine
Aestetelt[1] höhnend Tom, der feine Snob,
Der „namenlose Schlucker an der Leine“,
Weltunbekannt, doch starker Art gottlob,
Durch dreier Jahre Arbeit, Fleiß und Peine,
Von früh bis nächtens ringend mit dem Mob,
So, Tom, aus steten Opfers eigner Kraft
Hab Volkswerk ich fürs deutsche Land geschafft.

Du, Tom, indes, ein Meister der Artistik,
Lagst auf dem Sopha und goutiertest zart
Des lieben Samuelchens Rabulistik,
Vor Hunger–, Bluts- und Geistesqual verwahrt,
Schriebst oder lasest neuste Belletristik
Und fandest roh-plebejisch meine Art,
Denn Ihr, so wohlig-warm in eigner Haut,
Habt nie am großen Notbau mitgebaut.

6.

Der alte Kampf der beiden Stammgeschlechter..
Ach, Tom, daß sie einander nie verstehn!
Ihr seid Artisten, Dandys, Volksverächter,
Ich muß durch Hölle, Tod und Teufel gehn,
Ihr seid das Ich, der zarten Seele Wächter,
Ich muß zum Geist und zu den Vielen stehn,
Auf Eurer Fahne: „Neuer Bildung Lenz“,
Auf meiner Fahne: „play for puritans“.

Das ist das Brahm, das mir die Not versagt hat,
Zu Eurer Bildwelt find ich nie zurück.
Das ist der Gram, der Heinrichs Glut geplagt hat,
Zu meinen Welten sucht er neue Brück...
Das ist die Scham, die, Tom, Dein Werk benagt hat,
Dir fehlt das Heilge und des Opfers Glück –
Nie komm zu Euch ich hin und muß vernichten,
Doch lebe ich und bin, was sie nur dichten...


  1. Lessing schreibt schwankend „Aestetik“ und „Aesthetik“ – Die Transkription folgt der Vorlage