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die an diesem Zeitpunkt mit ihrer Mutter in Hochherzigkeit starben;
der Ehren wegen möchte ich sie lieber selig preisen.

11
Sie wurden ja ob ihrer Starkmut und Geduld

nicht bloß von allen andern Menschen,
sondern selbst von ihren Peinigern bewundert,
und so gaben sie den Anlaß,
daß die auf dem Volke lastende Tyrannei vernichtet wurde,
weil sie die Tyrannen durch ihre Geduld so besiegten,
daß das Vaterland durch sie gereinigt wurde.

12
Es wird aber sofort auch hierüber in Ausführungen eingetreten,

wenn erst, nach meiner Gewohnheit, der Grundgedanke herausgestellt ist.
Hernach wende ich mich ihrer Geschichte zu,
wobei ich dem allweisen Gott die Ehre gebe.

13
Wir untersuchen also jetzt die Frage:

„Hat die Vernunft die Herrschaft über die Triebe?“

14
Wir wollen aber bestimmen:

Was ist „Vernunft“? Was „Trieb“?
Ferner: „Wie viele Arten von Trieben gibt es?“
„Beherrscht alle diese die Vernunft?“

15
„Vernunft“ ist also Verstand,

der mit gesundem Urteil das Leben der Weisheit erwählt.

16
Und Weisheit ist das Wissen

um göttliche und menschliche Dinge und ihre Ursachen.

17
Und dieses besteht in der Gesetzesbildung,

wodurch wir das Göttliche in würdiger Weise
und das Menschliche in förderlicher erlernen.

18
Der Weisheit Arten sind Klugheit, Gerechtigkeit, Starkmut und Mäßigung.
19
Die Klugheit ist die trefflichste von allen;

durch sie beherrscht ja die Vernunft die Triebe.

20
Unter den Trieben sind zwei die umfassendsten, Lust und Schmerz;

jeder davon berührt auch die Seele.

21
Lust und Schmerz haben aber viele Triebe im Gefolge.
22
Vor der Lust kommt das Verlangen, nach der Lust die Freude.
23
Vor dem Schmerz die Angst, nach dem Schmerz der Kummer.
24
Erregung ist ein Trieb, der der Lust und dem Schmerz eignet,

wie man dies aus Erfahrung wissen kann.

25
Unter „Lust“ fällt auch der vielgestaltigste aller Triebe,

die sittliche Verkommenheit.

26
Sie äußert sich in der Seele als Prahlerei, Geldgier,

Ehrgeiz, Zanksucht und Verleumdung

27
und im Leib als wahllose Esserei, Gefräßigkeit und Alleinprassen.
28
Lust und Schmerz sind gleichsam zwei Bäume im Leib und in der Seele,

und so gibt es auch viele Nebenzweige dieser Triebe.

29
Nun putzt die Allgärtnerin Vernunft sie alle entweder aus

oder beschneidet, umwickelt und begießt sie
oder verpflanzt sie und veredelt so auf jede Weise
das Gestrüpp der Neigungen und Triebe.

30
Die Vernunft ist ja die Führerin der Tugenden,