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saß er neben ihr, und in seinen Augen war etwas, was sie noch nie gesehen hatte.

Als sie dann später gehen wollte, trennten sie sich mit einem ernsten langen Kuß.

„Ellen, und jetzt wollen wir beide arbeiten — schaffen — schaffen!“


Sie stand im Aktsaal vor ihrer Staffelei unter all den andern, sprach mit ihnen in der Pause auf dem Korridor und war abends mit den Freunden im Café — wie alle Tage, aber sie dachte nur, es müßte ihr jeder ansehen, wie es in ihr strahlte. Sie ging im Traume, wie in einer ganz andern Wirklichkeit — jetzt war der Schleier gerissen, der sie vom Leben und von sich selbst geschieden hatte, und was dahinter sich auftat, war nicht Enttäuschung, nicht Reue um etwas Verlorenes — es war, als wäre ihr ein großes Wunder geschehen, das ihr tiefstes Leben weckte. Und auch kein Rausch, der wieder in frostige Alltäglichkeit zerrann, ein unendlicher Reichtum drängte sich in jeden Tag zusammen und verwandelte das ganze Leben. Jetzt konnte sie mit ganzer Seele bei ihrer Arbeit sein und vergaß alle Entbehrungen. Ihre Kraft erneuerte sich in jeder Liebesstunde und in den langen Gesprächen mit Henryk, im Verkehr mit all diesen Menschen, die nur ihrer Kunst lebten.

Und doch war sie in dieser Zeit nicht eigentlich verliebt in Henryk; vor allem fühlte sie tiefe Bewunderung für ihn als Menschen und als Künstler, der ihr Meister war. Das andere gehörte wie von selbst dazu, und sie dachte nicht darüber nach, ob es Liebe war oder nicht, ebensowenig, wie man sich Gedanken darüber macht, warum die Sonne scheint.

Weihnachten sollte sie Reinhard wiedersehen, und nun kam ihr allmählich das Bewußtsein zurück, daß es noch eine zweite Welt gab, die wieder an sie herantrat. Das hatte sie alles vergessen, nur hier und da klang es wie eine ferne leise Mahnung an ihr Ohr, und dann rang sie mit dem Entschluß, ihm die Wahrheit zu sagen und sich von ihm zu lösen.

Aber als er kam, sie sich nach der langen Trennung

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Fanny Gräfin zu Reventlow: Ellen Olestjerne. München: Albert Langen, 1925, Seite 646. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Reventlow_Werke_0646.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)