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Die Mutter wußte den Tod ihres ältesten Jungen kaum zu verwinden. Lange Zeit hindurch war sie leidend und schwermütig und konnte es nicht ertragen, die Kinder viel um sich zu haben, die immer wieder von Kai sprachen und nach ihm fragten.

So wurde für die beiden Kleinen eine Gouvernante ins Haus genommen, und Ellen bekam nun regelmäßige Stunden, Tag für Tag, unerbittlich. Sie mochte immer noch nicht lernen, und es wurde ihr bitterschwer stillzusitzen. Einförmig liefen die Tage hin unter vielen Tränen und ewigem Nachsitzen.

Als Detlev größer wurde, fing er an mitzulernen; er war auffallend begabt und hatte die Schwester bald eingeholt. Man wurde sich nun darüber klar, daß Ellen wirklich dumm sei, und sie tröstete sich selbst damit: ich kann nun einmal nicht lernen. Aber im ganzen war Fräulein Anna gutmütig und hatte viel Geduld. Sie kam bald dahinter, daß Ellen für freundliche Worte zugänglicher war wie für Schelte, und sie vertrugen sich ganz gut miteinander.

Das Kind fühlte sich wie geborgen, wenn es nur dem Bereich der Mutter entfliehen konnte — mit Mama war es beständig, als ob man auf Eiern tanzte, jeden Augenblick ging eins kaputt. Wenn sie sich alle Mühe gab, nicht ungezogen zu sein, tat sie unfehlbar irgend etwas, was verboten war oder sich für ein kleines Mädchen nicht schickte. Öfters waren es allerdings auch schwerere Verbrechen, wo Ellen sich schuldig fühlte; aber um Verzeihung bitten und Reue zeigen waren Dinge, die sie nicht über sich gewann, wenn Mama böse war.

So war sie eines schönen Tages mit Detlev verschwunden, und stundenlang wurde nach den beiden Kindern gesucht. Gleich nach Mittag waren sie in den Garten gelaufen und von da auf die Koppeln. Drüben auf der „Freiheit“ war Schützenfest, die Musik und die vielen Leinwandzelte lockten unwiderstehlich. Über den Wall, der nach dieser Seite hin das Gut abgrenzte, durften sie nicht hinaus, es war streng verboten, aber Ellen hatte bei dem verlangenden Hinüberschauen alles vergessen. Sie kletterte hinüber

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Fanny Gräfin zu Reventlow: Ellen Olestjerne. München: Albert Langen, 1925, Seite 513. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Reventlow_Werke_0513.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)