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während es zugleich den Adel des Kunstschönen an der Stirne trägt. So die Strebepfeiler mit ihren Gesimsen, Wetterschlägen und Wasserspeiern, so die freistehenden Fialen, die Strebebogen und die Arcaden, so die Bogen und die Gewölbe mit ihren Kappen und ihrem Gurtwerke - kurz Alles, von der Thurmspitze herab bis zu den Beschlägen der Thore, zeigt das Bestreben, das Technische und Mechanische zum Vehikel der Kunst zu machen, das Schöne aus dem Nothwendigen erwachsen zu lassen.

Es bedarf wohl nicht erst der Bemerkung, daß die bloße innere Gesetzmäßigkeit, wie sie durch die angedeutete mathematische Verfahrungsweise sich ergibt, daß auch die allersinnreichsten Combinationen und Gruppirungen geometrischer Figuren nimmer für sich allein ein architektonisches Kunstwerk zu bilden vermögen, daß der Hauch der schöpferischen Freiheit, das Erbtheil des Genius, demnächst erst das höhere Leben den starren Formationen einflößen muß. Unter dem Einflusse dieses Lebenshauches gestalten sich die der Geometrie entnommenen Grundformen stets wie zu einer freien Schöpfung der Phantasie, indem sie sich gleich weit entfernt halten von einer blos empirischen Nachahmung von Formen des wirklichen Naturlebens, wie von todter Erstarrung in abstract-mathematischer Construction. Die Freiheit erstarkt hier am Gesetze; sie durchdringen sich wechselweise, wie das geometrische und vegetabilische Element ineinander spielen; überall bewegt sich die freithätige, schöpferische Ausführung innerhalb der von dem klarbewußten Gesetze gezogenen Gärnzen, alles Unbestimmte schwankt an den Grundformen aus, die sich allerwärts als die herrschende, urbildliche Idee hindurchziehen. So hat denn auch ganz folgerichtig das Überwuchern der Freiheit, die Losgebundenheit von jedem höheren und höchsten Gesetze (und zwar nicht blos auf dem Gebiete der Ästhetik) den Verfall herbeigeführt, jene Unordnung in die Bildungen gebracht, welche nirgendwo mehr einen durchlaufenden Faden erkennen lassen. Indem man, den Boden der alten Satzungen und Traditionen verlassend, Willkür übte, ward man der Willkür dienstbar; während man sich endlosen Raum zu verschaffen wähnte, sieht man sich plötzlich von allen Seiten eingeengt und gelähmt.

Doch wir müssen den Strom der unwillkürlich sich aufdrängenden Betrachtungen dämmen, um uns wieder den Thatsachen zuzuwenden. Es ist hier vor Allem noch Eines hervorzuheben, was gerade der Antike gegenüber ein unterscheidendes Merkmal der christlichen Baukunst bildet: das Verhältniß des Äußeren zum Inneren. Während der heidnische Tempel nur, oder doch wesentlich Außenbau war, ist die christliche Kirche wesentlich Innenbau, wie solches der christliche Cultus erfordert, welcher vor dem ganzen, innerhalb der Tempelmauern versammelten Volke gefeiert

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August Reichensperger: Über das Bildungsgesetz der gothischen Baukunst. Leipzig: T. O. Weigel, 1865, Seite 129. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Reichensperger_Christliche_Kunst_129.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)