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Vereins (Hr. Prof. Dr. Braun) im Festprogramme zu unserer heutigen Versammiung nachgewiesen hat, spielte die Zahlen- und Maaßlehre in der Baukunst der Alten allerdings bereits eine nicht unbedeutende Rollen; ihre Combinationen tragen jedoch mehr einen spielenden Charakter an sich, als daß sie als fruchtbare Grundiage eines Organismus erscheinen - in der Architektur so wenig wie in der Musik. Der specifisch-christlichen Kunst des Mittelalters blieb es vorbehalten, in beiden Kunstzweigen jenes Princip nach allen Richtungen hin zu durchdringen und gleichzeitig practisch zu meistern, den Canon, die unveränderten Satzungen der höheren Architektur festzustellen, Satzungen, welche, wie die christlichen Dogmen mit der freiesten Entfaltung sich vertragen und keinerlei Fortbildung je nach Individualität und Zeiten ausschließen, so wenig wie die Regeln des Generalbasses in der Musik die wahre Freiheit des Schaffens irgendwie beeinträchtigen.

Es ist eine auf den ersten Blick sehr auffallende Thatsache, daß man Jahrhunderte hindurch der mittelalterlichen Architektur gerade dasjenige am entschiedensten absprach, was unserer Ansicht nach ihren höchsten Ruhm bildet, daß man sie für das Product einer ungeordneten Phantasie, einer übermüthigen, barbarischen Laune ansah, weshalb man ihr denn auch die Bezeichnung „gothisch“ als Spottnamen anheftete. Schon Basari wirft verächtliche Seitenbiicke auf die ungeschlachte, grillenhafte Kunst der Deutschen, welche, nebenbei gesagt, in Italien bereits die Oberhand gewonnen hatte, und Quatremère de Ouincy will sie gar überhaupt nicht mehr als Kunst gelten lassen und weiß in seinem System kein Fach für sie ausfindig zu machen; der Engländer Reynolds endlich geht in seinen ästhetischen Vorlesungen schweigend an ihr vorüber, wie ganze Generationen schweigend an ihren Denkmalen vorüber gegangen sind. Und wie sehr auch in den letzten Jahrzehnten die Würdigung der in Frage stehenden Kunstweise theoretisch und practisch fortgeschritten ist, jenes Vorurtheil erscheint noch lange nicht vollständig besiegt; wir sind noch weit, sehr weit davon entfernt, daß die Formensprache der alten Bauhütten wieder als eine lebende Sprache erachtet werden könnte. Auffallend darf die Thatsache gewiß genannt werden, wenn man bedenkt, wie ausgedehnt in der Zeit und im Raume die Herrschaft der gothischen Kunst einst war und daß nach ihr nichts wahrhaft Neues und Selbstständiges mehr auf dem Gebiete der Architektur aufgekommen ist.

Die Erklärungsgründe dieser Erscheinung liegen theilweise so tief und sind so vielfach und enge mit einer Reihe von Thatsachen und mit der allgemeinen Culturgeschichte verflochten, daß hier eine Darlegung des Einzelnen, selbst auch nur in den skizzenhaftesten Andeutungen, zu weit führen

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August Reichensperger: Über das Bildungsgesetz der gothischen Baukunst. Leipzig: T. O. Weigel, 1865, Seite 126. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Reichensperger_Christliche_Kunst_126.jpg&oldid=- (Version vom 31.1.2023)